54 Stunden – vom Versagen eines Staates, seinen Medien und seinen Menschen
Ein Deutscher Sommer von Peter Henning
Da saß eine junge unschuldige Frau mit einer entsicherten Waffe am Hals im Wagen, und nicht einer da unten kam auf die Idee, sie aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien. Warum nicht? Warum taten alle so, als sei es das Normalste auf der Welt, mit Mördern zu reden? Sie zu interviewen und ihnen Feuer für ihre Zigaretten zu geben? Jetzt nicht denken, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.“
Am 16. August 1988 überfallen zwei Kriminelle eine Bank in Gladbeck. Eine spektakuläre Geiselnahme findet ihren Anfang. Die Polizei lässt die Täter fliehen, sieht hilflos zu, wie eine Journalistenhorde Gangster und Geisel verfolgen. Eingreifen tut die Polizei nicht, obwohl es Möglichkeiten zum Übergriff gibt. Rösner und Degowski gelingt es, einen Linienbus in ihre Gewalt zu bringen und erschießen einen Jungen, der sich schützend vor seine kleine Schwester stellt. Die Medien sind live dabei, die Täter geben Interviews, ganz Deutschland verfolgt das Geiseldrama gebannt am Radio und am Bildschirm. Die Bildzeitung titelt: „Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?“, begleitet vom Bild der erschöpften Geisel Silke Bischoff. Als die Polizei nach 54 Stunden doch noch eingreift, wird Silke Bischoff beim Übergriff erschossen. Ein Sündenfall des Journalismus, ein Offenbarungseid der Polizei.
Der Autor Peter Henning begleitet Männer und Frauen in diesen 54 Stunden. Er lässt die Menschen aus ihrer Perspektive erzählen, indirekt und direkt berührt das Geiseldrama sie alle. Peter Ahrens, Fotograf, sagt seine Auftragsarbeit für eine Werft ab, um beim großen Medienspektakel dabei zu sein: „Wir hatten völlig freien Zugang zur Bank. Von Behinderung durch die Polizei keine Spur. Wir machten unsere Bilder, und die Grünen guckten zu.“ Der Pole Adam ist Busfahrer; er wurde gerade von seiner Freundin verlassen. Später am Tag wird er den Bus fahren, den die Geiselnehmer entführen. Vorher lernt er in der Kirche die Taxifahrerin Chris kennen, die den ersten Tag nach einem Überfall wieder in ihr Taxi steigt. Auch sie wird in das Geiseldrama verwickelt werden. Der RTL-Journalist Bertram schwankt, ob er ins Krankenhaus fährt, wo sein Kind gerade vier Monate zu früh auf die Welt gekommen ist, oder doch besser beim Geiseldrama vor Ort sein wird. Der SEK-Mann Kirchner kann es nicht fassen, dass er vor einem Übergriff in der Bank zurückgehalten wird und die Polizei vor Ort die Geiselnehmer fliehen lässt.
Ein Fest für Journalisten – und wenn Gedanken aufkommen, dass es um Menschenleben geht, um Verzweiflung und unterlassene Hilfeleistung zugunsten einer tollen Story, werden diese schnell zur Seite geschoben.
Ein Stück Zeitgeschichte – schonungslos und spannend geschrieben, das den Leser fassungslos zurücklässt.
Hinweis: Peter Henning hat am 12. September im Rahmen des Harbourfront Literaturfestivals um 21.00 Uhr auf der Cap San Diego gelesen.
Ein deutscher Sommer von Peter Henning ist im aufbau-Verlag am 19. Juli 2013 erschienen. 576 Seiten, gebunden, Euro 22,99