Alle Welt passt in Schablonen
Unterwegs in der Speicherstadt – da geht mir ein Licht auf: Die Welt ist eine Schablone!
Kürzlich las ich in einem historisch angehauchten Krimi, dessen Schauplätze in und unmittelbar um die Speicherstadt lagen, über eine alte Rohrpostanlage, die es in der Speicherstadt geben soll. Die habe ich zwar noch nie gesehen, aber ausschließen kann ich ihre Existenz nicht. Zu vieles gibt es in den unterschiedlichen Gebäuden, welche in der Speicherstadt als Blöcke bezeichnet werden, zu finden. Da sind zum Beispiel die alten Glaskolben-Deckenleuchten in den Kellern. Mit ihren Keramikfassungen sind sie wundervolle Zeugnisse einer Zeit, in der die Elbe noch einen Tidenhub von zwei Metern hatte! Weit konnte man damals bei Niedrigwasser in den Elbstrom laufen, dem Flusswatt. Mit jeder Elbvertiefung kam das Wasser den Kellerfenstern näher, und heute werden diese, bei einem regulären Tidenhub von 3,75 Metern, mehrmals im Winter geflutet, Heizungsanlagen müssen ausgebaut und, nachdem das Wasser abgelaufen ist, wieder eingebaut werden. Mit dem ablaufenden Wasser sehe ich dann die toten Tauben am Fleetschlösschen vorbeischwimmen, die die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt haben und ertranken, nachdem ihnen jeder Fluchtweg über Fenster oder Feuertreppen durch das Wasser versperrt worden war.
Geflutet wurden vor etlichen Jahrzehnten auch die Glaskolben der Lampen, und ein Großteil von ihnen ist beim darauffolgenden Frost geplatzt. Von der Qualität der Lampen zeugen aber noch so manche, die all die Fluten und Winter unbeschadet überstanden haben. Heute kann man sie wieder von Fassung zu Fassung verbinden und sich an die Zeit erinnern, als die Keller noch als Lagerflächen oder Werkstatträume dienten.
Im Zuge der heutigen Umnutzungen nach dem Fall der Zollgrenzen und der damit einhergehenden hervorragenden Renovierung der einzelnen Blöcke durch die HHLA AG werden die Keller zu Wannen und die Gebäude aufwendig zusätzlich mit Ankern im Untergrund gesichert, was im Bestand natürlich Unsummen verschlingt und ein Grund ist, dass die Mieten in diesem wunderschönen Denkmal mitunter etwas höher liegen als andernorts. Wer will schon andernorts, wenn man am Pickhuben, in der Dienerreihe oder am Brooktor residieren kann?
1996, als ich zum ersten Mal in die Speicherstadt kam, um mit meiner Schwester ein paar asiatische Vasen bei einem Teppichhändler zu kaufen, war ich beeindruckt von dem geschäftigen Treiben an den Winden. Die Lageristen zogen Teppiche in dicken Bündeln an Seilen hoch über unseren Köpfen in die Luken. „Nicht unter schwebenden Lasten aufhalten“, stand auf einem Schild und ich erinnere mich, dass ich mehr Angst vor herabfallenden Arbeitern hatte, die in schwindelerregender Höhe versuchten, die Waren in die Böden zu ziehen; das ich dies selbst einmal machen würde, hätte ich damals nicht für möglich gehalten, kann aber heute sagen, dass dies bei Achtung der Sicherheitsvorschriften, mit ein bisschen Übung, recht einfach ist.
2004, ich war gerade mit der Renovierung des Fleetschlösschens beschäftigt, habe ich gegenüber am St. Annenufer regelmäßig die lautstarken Dialoge zwischen oberen Böden und Straße mitbekommen: Da war was los! Im Frühjahr zieht dort eine Werbeagentur ein, die Winden werden dann lediglich Schmuck und Denkmal sein und an die Zeit erinnern, als dort Kaffee und tonnenweise Medikamente gelagert wurden. Die Palette der Waren, die in den Lagern der Speicherstadt ein- und ausfuhren, war breit und bunt.
Vermutlich aus den späten 50er oder 60er Jahren stammte eine Werkstatt, auf die ich im Zuge der Renovierung eines Speichers aufmerksam gemacht wurde. „Das muss hier alles raus“, hieß es damals. Klar, die neuen Nutzer stehen Schlange. Die Speicherstadt verändert ihr Profil, wird zusehends zum Bürostandort oder, wo dies mangels natürlichen Lichteinfalls nicht möglich ist, zu Showrooms für eine neue Generation von Textilern. Keine Teppiche mehr, sondern „Klamotte“ ist angesagt.
Ich zücke die Kamera, musste das Bild, dass sich mir bot, sofort festhalten, bevor es zerstört würde: Überall hingen blecherne Schablonen oder lagen in Röhren eingerollt in Regalen. Eine dicke Staubschicht hatte sich in Jahrzehnten über diese Ordnung gelegt, aber ansonsten schien der Quartiersmann, der an einem kleinen Schreibtisch mit einfachem Holzstuhl einmal Kaffeesäcke mittels der Schablonen allen Regionen der Welt zuordnete, diesen Platz gerade für eine Pause verlassen zu haben. Pinsel und Farben lagen offen … Es war eine fantastische Szenerie! Im Speicherstadtmuseum kann man einige dieser Schablonen ansehen, in der Kaffeerösterei um die Ecke die entsprechenden Kaffeesäcke kaufen. Was sich daraus alles machen lässt, kann man auf meiner Website www.christianoehler.de ansehen.