Das Wasser kommt
1962 am Zollkanal
In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 schrecken die Menschen entlang der Elbe aus dem Schlaf. Für viele kommt jede Warnung zu spät: Bei der schlimmsten Sturmflut seit über 100 Jahren sterben allein in Hamburg 315 Menschen, rund 20.000 werden obdachlos. An die Flut und ihre Opfer erinnern zum 50. Jahrestag viele Veranstaltungen und Ausstellungen. Und all jene, die dabei waren, haben die Bilder von einst wieder vor Augen. Zum Beispiel Heidi Vollrath (64), die als 14-Jährige die Sturmflut im Zippelhaus erlebt hat. Zippelhaus 6 – das ist seit ihrer Geburt die Adresse von Heidi Vollrath. Mit Blick auf die Speicherstadt ist sie groß geworden. Und der Freihafen war als Kind ihr Spielplatz: Dort turnte sie mit ihren Freundinnen in den Kriegstrümmern herum. „Wenn man durch den Freihafen ging, roch es immer nach der ganzen Welt, nach Kaffee, Tee, Gewürzen.“ Heidi Vollrath war 14, als in Hamburg die Deiche brachen. An jenem 16. Februar 1962 ist sie nachmittags auf der Geburtstagsfeier bei einer Schulkameradin in der Brandstwiete. Auf dem kurzen Weg nach Hause wird sie von Sturmböen geschüttelt.
Schon seit Tagen hatte es über Norddeutschland gestürmt. Trotz der Sturmflutwarnung, die das Deutsche Hydrographische Institut Hamburg am Abend des 16. Februars ausgibt, gehen die meisten Hamburger jedoch sorglos ins Bett. Einen Wasserhöchststand von 5,70 Meter am Hamburger Pegel hatten selbst die Meteorologen nicht vorhergesehen. In der Nacht hebt der Orkan Vincinette weiter an und fegt mit Geschwindigkeiten von bis zu 130 Kilometern über die Stadt. Er peitscht das Elbwasser vor sich her. Die teils über 100 Jahre alten Deiche halten dem Druck nicht stand: Um 22 Uhr bricht der erste Deich in Cuxhaven. Die Flutwelle bewegt sich in Richtung Hamburg. Dort gibt am 17. Februar um 0:14 Uhr der Deich bei Neuenfelde-Rosengarten nach, Einbrüche an 60 weiteren Stellen folgen. Das Wasser reißt Autos, Zäune und Straßen mit sich, Telefon, Strom und Gas fallen aus. Ein Sechstel des Hamburger Stadtgebietes steht nach kurzer Zeit unter Wasser. Am schlimmsten trifft die Flutwelle die tief gelegene und dicht besiedelte Elbinsel Wilhelmsburg, 60.000 Menschen werden dort eingeschlossen. Aber auch die Speicherstadt und der Freihafen stehen unter Wasser.
Heidi Vollraths Mutter Gerda hat an diesem Abend eine ungute Vorahnung. Sie hatte beobachtet, dass schon seit zwei Tiden das Elbwasser nicht mehr ablief. Als ihre Tochter Heidi ins Bett geht, setzt sie sich mit einer Wolldecke ans Fenster im dritten Stock und blickt stundenlang auf den Zollkanal und die Speicherstadt hinaus. Der Fußweg neben dem Kanal war damals so niedrig wie die Straße. Ein eisernes Gitter verlief daran entlang, und zur Straßenseite war der Weg von Linden gesäumt, erinnert sich Heidi Vollrath. „Nach der Sturmflut hat sich die Straße dann sehr verändert, die Linden wurden abgeholzt und die Hochwasserschutzanlagen gebaut.“
Gegenüber der St.-Katharinenkirche war das Ufer niedriger: Dort schwappt in jener Sturmnacht gegen 2 Uhr zuerst das Wasser auf den Fußweg. Heidi Vollraths Mutter weckt ihren Lebensgefährten, denn direkt am Zollkanal hatte das Paar seinen blauen VW-Käfer geparkt. Das Wasser steht schon bis zum Trittbrett, als sie das Auto erreichen. „In der ganzen Straße ist das Wasser wie eine Fontäne aus den Gullys geschossen“, sagt Heidi Vollrath. „Mit einer Bugwelle ist meine Mutter dann verkehrt durch die Brandstwiete, die damals eine Einbahnstraße war, bis zur St.-Petri-Kirche gefahren. Dort war das Auto sicher. Als sie zurückkehrten, reichte ihnen das Wasser bis an die Oberschenkel. Sie mussten sich ja durch eiskalte, reißende Fluten kämpfen, in denen alles schwamm, was das Wasser mitriss. Meine Mutter hat seit jener Nacht immer bei Kälte Schmerzen in den Beinen.“
An Schlaf ist in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Vom Fenster aus beobachtet die Familie, wie die Nachbarn versuchen, ihre Autos vor den Fluten zu retten. Auf der Kornhausbrücke stehen sie Stoßstange an Stoßstange. „Vor allem hatten wir Angst, dass das Gaswerk am Grasbrook explodiert“, erzählt Heidi Vollrath. „Das Gas wurde mit einer riesigen Flamme abgefackelt, wohl wegen des Überdrucks. Der Himmel war blutrot.“ Gar nicht weit davon entfernt wohnt auch eine Klassenkameradin: Ihr Vater ist Werkmeister in den Werkzeughallen der HADAG und bewohnt mit Frau und Kind eine Betriebswohnung am Grasbrook. Vom Wasser überrascht, verbringt die Familie samt Schäferhund diese Nacht auf dem Küchentisch.
Irgendwann fällt der Strom aus, erst im Freihafen, dann in der Altstadt. Im Zippelhaus 6 steht das Wasser 1 Meter hoch im Treppenhaus. „Mit einem fürchterlichen Geräusch hat es sich dann die Treppe herunter in den Keller ergossen. Dort war nachher nichts mehr heil“, berichtet Heidi Vollrath.
Mit der Ebbe zieht sich am Morgen das Wasser am Zippelhaus zurück. Heidi Vollrath erinnert sich an die Busse mit Evakuierten aus Wilhelmsburg, die über die Kornhausbrücke gefahren kommen. Sie selbst steht vor der geschlossenen Katharinen-Schule: Dort ist der Heizungskeller voll Wasser gelaufen. Das bedeutet eine Woche schulfrei. Viele Tage müssen die Menschen ohne elektrischen Strom auskommen, Kerzen sind in der ganzen Stadt ausverkauft. Auch das gibt es damals schon: Schaulustige. „Diese Gaffer waren schrecklich“, sagt Heidi Vollrath. „Wir haben den Besitzern der Firma Rosenbusch in unserem Haus geholfen, den Keller leerzuräumen. Dass dann Menschen zum Gucken kommen und davon sogar Sachen mitnehmen, hat mich als Kind erschüttert.“
Aber ebenso gibt es ein Gefühl der Gemeinschaft und Solidarität, das vor allem spürbar wird, als sich am 26. Februar 150.000 Menschen auf dem Rathausmarkt versammeln, um der Sturmopfer zu gedenken. „Das war eine wahnsinnige Menschenmenge, ganz Hamburg war auf den Beinen“, erinnert sich Heidi Vollrath an dieses Ereignis. „Wir hatten Kerzen in den Händen und waren alle sehr ergriffen.“