Buchtipp: Im Gefängnis der Zeit
„Regenschirm“ von Will Self
„An den Kartons lehnt ein Regenschirm, er erinnert sich nicht, ihn gekauft, geliehen, mitgenommen zu haben. Aber, denkt er, so ist es nun mal mit den Regenschirmen: Man geht nie eine wirkliche Verbindung mit ihnen ein, sie finden auf geheimnisvolle Weise in unser Leben, erweisen sich kurzfristig als nützlich, stören bald, weil sie sperrig sind, und gehen verloren. Nicht einmal der Verlust bleibt in Erinnerung, weshalb am Ende nur die schirmförmige Lücke auffällt, an der er einst gestanden hat.“
1971 tritt der Psychiater Zachary Busner seinen Dienst im Friern Mental Hospital an, einer psychiatrischen Anstalt. Dort begegnet er Audrey Death, die seit fast 50 Jahren in der Anstalt vor sich hinvegetiert. Audrey Death leidet an der Europäischen Schlafkrankheit, die zwischen 1917 und 1927 als Epidemie auftrat, viele Menschen tötete oder in Irrenhäuser verbannte.
Busner is fasziniert von Death, die als eine Art Institution in der Anstalt gesehen wird und einen kleinen Frühlingsschrein unter ihrem Bett gebaut hat. Er besorgt sich die Krankenakte, vergleicht sie mit derer anderer Patienten und stellt fest, dass es einige der sogenannten „Enzis“ im Friern Mental gibt. Unterstützt von seinem Pfleger Myoba wagt Busner ein Experiment, das verblüffende Folgen hat: Busner holt die Patienten zurück ins Leben: „Da sieht sie ihre alten Hände und stottert, W-wem gehören…diese alten Hände, ist das – ist das meine Todeskrankheit?“ Die Enzis, von der Zeit gefangen, werden nun mit einer – mit ihrer – Zeitreise konfrontiert.
Busner nimmt seine Gruppe mit auf einen Ausflug zu dem entferntesten Ort, den sie am Horizont von der Anstalt aus sehen können: „Er ist- der Horizont ihrer Welt, er markiert die äußerste Grenze. Wir fahren rauf und sehen von dort auf Friern hinab, und so werden wir den Bann brechen – und ihnen die Freiheit schenken.“
Doch ist Busners Erfolg von Dauer?
„Regenschirm“ ist sprachlich hochanspruchsvoll und erinnert an Joyce’s „Finnegans Wake“. Handlungen gehen in Gedanken über, in die Vergangenheit, das Jetzt, die Zukunft, springen von Busner über auf Death und wieder zurück. Mitten im Satz vollzieht sich der Wandel und erfordert äußerste Konzentration des Lesers, der, soeben noch bei Busners Patientenrundgang, sich ein paar Worte weiter in der Munitionsfabrik und im Ersten Weltkrieg befindet – und dann unversehens in Busners Gedankenwelt auftaucht. So umhüllt eine Geschichte die andere wie ein Kokon.
„Regenschirm“ ist kein Buch zum Abschalten, aber eines, das aufgrund seiner Ungewöhnlichkeit, seiner Sprachgewalt und der nahegehenden Handlung in Erinnerung bleiben wird.
Der britische Autor Will Self lebt in London; sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
„Regenschirm“ von Will Self ist im März 2014 bei Hoffmann und Campe erschienen. 496 Seiten, gebunden, Euro 24,99