Harbour Front Literaturfestival 2015
9. September, Merle Kröger auf der Cap San Diego
Der Hafen ist blau beleuchtet, und mittendrin liegt die Cap San Diego. Mit ihren knarrenden Holzböden im dunklen Schiffsbauch ist sie einer der schönsten Austragungsorte des Festivals.
Merle Kröger liest aus ihrem Kriminalroman „Havarie“. Ein Roman, der nicht nur inhaltlich auf die Cap San Diego passt, sondern auch tagesaktuell ist.
Schauplatz des Romans ist das Mittelmeer. Zwölf Männer versuchen in einer stürmischen Nacht, in einem Schlauchboot die Küste Spaniens zu erreichen. Ebenso auf dem Mittelmeer unterwegs: ein riesiges Kreuzfahrtschiff, ein Frachter und ein Seenotrettungskreuzer. Aus der Perspektive von elf Menschen, die sich auf den verschiedenen Booten befinden, wird „Havarie“ erzählt. Da sind die algerischen Flüchtlinge und Schleuser, der junge ukrainische Offizier des Kreuzfahrtschiffs, der syrische Illegale, der in der Wäscherei schuftet, und das asiatische Zimmermädchen.
Nicht nur der Schiffsboden knarrt, auch die Wände und Maschinen erwecken die Cap San Diego zum Leben; dazu wird leise eine Musik eingespielt: All das gibt dieser Lesung eine besondere Atmosphäre, und Merle Kröger sagt zu Recht: „Wir lesen zusammen, die Cap San Diego und ich.“
14. September, Dominique Horwitz im Altonaer Theater
Ein Stehpult, ein roter Samtvorhang, ein Scheinwerferlicht. Mehr braucht es nicht, wenn der großartige Schauspieler aus seinem Buch liest beziehungsweise es spielt. Dominique Horwitz schlüpft im Altonaer Theater in die Rollen des Kutschers Kaminski, der geheimnisvollen Trixi Muffinger, der ehemaligen Primaballerina Pütz, des singenden Buffo und all der anderen Gestalten.
Im Weimarer Seniorenheim Villa Gründgens residieren greise Ex-Schauspieler und Künstler. Diese illustre Gesellschaft ist dabei, Schillers Werk „Die Räuber“ einzustudieren, das ihres Erachtens in der Goethe-Stadt nicht die nötige Aufmerksamkeit erfährt. Doch das Altersheim hat Nebenwirkungen: Eine rätselhafte Todesserie trifft erst den Hausmeister, dann Buffo. Kutscher und ebenfalls ehemaliger Schauspieler Kaminski übernimmt vorübergehend die Hausmeistertätigkeiten und macht sich daran, dem Sterben auf den Grund zu gehen.
Horwitz singt, krächzt, spricht mal akzentuiert kühl, dann wieder keifend – er guckt durch den Saal, schreitet dahin, zeigt mit dem Finger um sich und erweckt die Protagonisten seines Krimis „Tod in Weimar“ zum Leben; sie stehen zusammen mit Horwitz auf der Bühne des Theaters. Die einzige Person, mit der er nicht klarkommt, ist eine permanent knipsende Fotografin, die er mit einem „Sie strapazieren mich ungemein“ in ihre Schranken verweist und nach einem kurzen Schlagabtausch auf einen Sitzplatz verbannt. Dann widmet er sich wieder seinen imaginären Schauspielerkollegen und erheitert das Publikum mit „drastisch poetischen Übergängen“ – das Publikum ist so gebannt, dass es nach Ende der Lesung einfach sitzen bleibt.
15. September, Franz Dobler in der KLU
Auch im kleinen Saal der KLU ertönt Musik, diesmal ist es Jazz. Der Raum mit den grauen Sitzen und den weißen Wänden wird vom hellen Deckenlicht ausgeleuchtet. Er wirkt steril wie ein OP-Saal. Herein kommt kein Arzt, sondern – Stilbruch – Franz Dobler mit rotem Cappy auf dem Kopf und einer Bierflasche in der Hand. Es gibt kein Mikro, seine Stimme ist bereits nach einigen Minuten strapaziert, aber, so Moderator Volker Albers, ein bisschen müsse er jetzt noch durchhalten. Und Franz Dobler hält durch; er redet und liest sich einfach warm. Mit trockenem Humor konstatiert er, dass er hier gerade mehr rede als sonst in Monaten. Er beschwert sich über die langen Kapitel, die er zu lesen habe, die er – so Albers’ Einwand – sich ja schließlich selbst ausgesucht habe.
„Ein Bulle im Zug“ handelt vom Polizisten Fallner, der einen Jungen erschossen hat, dem Rat seiner Therapeutin folgt und seinen Jugendtraum verwirklicht. Er kauft sich eine Bahncard 100 und fährt mit der Bahn ziellos durch Deutschland. Kann er vor den Erinnerungen an den toten Jungen fliehen? Viele dieser Bahn-Geschichten habe er selbst erlebt, so Dobler, aber die tollsten habe er nicht verarbeitet, die seien zu unglaubwürdig. Das Publikum lauscht und schaut verzückt, und das ist dank der OP-Saalbeleuchtung schön zu erkennen.
17. September, Gerhard Henschel auf der Cap San Diego
3.500 Seiten umfassen die bisher sechs erschienenen Bände über das Leben des Martin Schlosser – der eigentlich der Autor Gerhard Henschel ist. Das neue Buch „Künstlerroman“ (siehe auch Buchtipp) spielt Mitte der 80er Jahre. Der gutgelaunte Autor hat Verstärkung mitgebracht und gibt mit Franz Schulz ein perfektes Duett. Sie lesen abwechselnd; manchmal ist nicht ganz klar, wer welche Stelle zu lesen hat, aber das macht nichts, das hebt die ohnehin schon gute Stimmung.
Henschel schreibt eine Seite pro Tag und bedient sich seines eigenen Archivs: Er und seine Familie haben akribisch Unterlagen, Tagebücher und hauseigene Familienzeitschriften abgelegt. Nostalgie käme beim Sichten und Schreiben nicht auf; die Romane muten an, als würden sie gerade erst passieren.
Doch nicht nur aus „Kindheitsroman“ und „Künstlerroman“ wird gelesen, Henschel trägt noch einige Zungenbrecher aus seiner „Zungenbrechersammlung“ vor: „Dans ta tente, d’attend ta tante“, was übersetzt „In Deinem Zelt erwartet Dich Deine Tante“ heißt. Mehr Spaß geht nicht.
19. September, Navid Kermani in der Centrum Moschee
Es ist schwer zu sagen, was an diesem ungewöhnlichen Abend am Schönsten ist. Schauspieler des Thalia-Theaters tragen Texte aus Navid Kermanis Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ vor. Die Passagen, die sie lesen, haben sie sich selbst ausgesucht und geben ihnen eine individuelle Note. Christliche Motive von Rembrandt, El Greco oder Dürer werden interpretiert, es geht zum Beispiel um Lust, Liebe, Hiob, Hieronymus und den Löwen. Um die Schauspieler sitzen die Zuhörer in kleinen Gruppen und lauschen, fragen, diskutieren. Und mittendrin ist auch der deutsch-iranische Autor Navid Kermani, der als Orientalist hohes Ansehen genießt. Er ist Muslim.
Dieser Abend findet in den Gebetsräumen der Centrum Moschee in St. Georg statt. Die Lesungen werden von den hier parallel stattfindenden Gebeten unterbrochen, und so vermischen sich Kermanis „berückend geschriebenen Meditationen“ über das Christentum mit den (arabisch-sprachigen) Gebeten des Imans und den anwesenden Gläubigen. Zwischen blauen Mosaik-Wänden und dicken Perserteppichen werden die christlichen Motive gezeigt. Die Stimmung mutet feierlich an, ist mit Erstaunen gemischt, denn heute vermengen sich die christlichen mit den muslimischen Gedanken genauso wie Frauen (mit und ohne Kopftuch) und Männer in den Gebetsräumen.