Über Menschlichkeit
Ob wir den Weg wüssten, fragt der Pförtner in der leuchtend gelben Sicherheitsweste. Der kleine dunkelhaarige Junge, ebenfalls in grellgelber Weste, springt auf und deutet in die Richtung, in die wir gehen müssen. Sie lachen. Wir sind auf dem Messegelände; hier werden zurzeit Flüchtlinge aufgenommen, die in Hamburg ankommen. Unser Ziel ist die Messehalle B7, wo die Kleiderkammer untergebracht ist, die Flüchtlinge mit dem Nötigsten versorgt. Die Kleiderkammer wurde von ehrenamtlichen Helfern gegründet. Jeder kann hier spenden: Kleidung, Spielzeug, Kissen, Decken, Hygiene-Artikel, Schuhe. Und jeder kann hier mithelfen. Spontan. Unangemeldet. Man muss einfach nur hingehen. Wie wir heute Abend. Eine Minute nach Ankunft packen wir bereits Kartons mit Damenkleidung zusammen, die wir uns aus dem vorderen Teil der Halle, wo die Kleidung vorsortiert wird, zusammensuchen. Damenhosen, Jogginghosen, Blusen, T-Shirts, alles nach Größen sortiert, abgezählt und abgepackt.
Mein nächster Einsatz, diesmal am Wochenende, ist in der Schuhabteilung. Kinderschuhe, Damenschuhe, Herrenschuhe, Sportschuhe, Hausschuhe und Flip-Flops werden nach Größen einsortiert, High Heels aussortiert. Die Arbeit ist anstrengend, aber sie macht Spaß. Ich kenne die Menschen, mit denen ich hier zusammen arbeite, nicht. Es ist ein Querschnitt durch die Bevölkerung. Teenager mit Baseballcaps, Rentner, Frauen mit Kopftuch, Enrique aus Spanien. So unterschiedlich hier auch alle sind, sie haben alle etwas gemeinsam: Sie lächeln, und sie wollen helfen. Es sind viele Hamburger, und das stimmt zuversichtlich.
Warum ich helfe? Weil ich finde, dass es unsere Pflicht ist, diejenigen zu unterstützen, die in Not geraten sind und vor Krieg fliehen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern die Aufgabe eines jedes einzelnen. Es geht um Menschlichkeit, und es geht uns alle etwas an.
Die Flüchtlingsströme werden Deutschland verändern. Wie sie Deutschland verändern werden? Das liegt an uns. Während die einen Angst vor Veränderung haben – vor dem Unbekannten, einer Islamisierung, der Masse an Zuwanderern, den Kosten –, stehen die anderen den Flüchtlingen positiv gegenüber: Sie malen Willkommensschilder, begrüßen Flüchtlinge am Bahnhof, übergeben selbst geschmierte Brote und Obst und geleiten sie zu den Unterkünften. In der Kleiderkammer wird gepackt, und es gibt Initiativen, die Deutschunterricht anbieten, die Flüchtlinge rechtlich beraten oder Ausflüge organisieren. Sie scheuen den Kontakt nicht. Sie lassen sich auf die Neuankömmlinge ein.
Wer Bedenken hat, sollte, statt sich von diffusen Ängsten und Hetzparolen leiten zu lassen, die vor allem auf Social-Media-Plattformen verbreitet werden, direkten Kontakt zu Flüchtlingen und Initiativen suchen. Hinter der riesigen Zahl 800.000 – so die Anzahl der Flüchtlinge für Deutschland – stehen 800.000 Menschen, Namen und Schicksale.
Wir können Flüchtlinge integrieren, ihnen erklären, wie das Leben und die Regeln bei uns funktionieren: die Zukunft aktiv mit den Flüchtlingen gestalten – auf das diese irgendwann keine Flüchtlinge mehr sind, sondern Teil unserer Gesellschaft. Natürlich ist das eine Herausforderung, aber wir sollten sie als positive Herausforderung sehen.
Damit der kleine Junge in der grellgelben Weste in Zukunft nicht nur den Weg zeigen, sondern auch mit Worten erklären kann.