Händel zum Niederknien

 

Philippe Jarousky (Foto: Pressefoto)

Eine Elbphilharmonie außer Rand und Band

„Je suis sorti en douleur de cette salle“ (Ich habe diesen Saal mit Trauer verlassen), sagt der Countertenor Philippe Jaroussky im Anschluss an sein Rezital im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie. Nicht, dass ihm der Auftritt keinen Spaß gemacht hätte – im Gegenteil: die Begeisterung und der Zuspruch für den Franzosen waren immens. Die zwei Stunden gingen so schnell vorüber, dass am liebsten weder Künstler noch Zuhörer diesen wunderbaren Konzertabend hätten zu Ende gehen lassen.

Philippe Jaroussky ist ein Superstar. Der 39 Jahre alte Sänger aus dem Umland von Paris ist auf den großen Opern– und Konzertbühnen dieser Welt zuhause. Sein aktuelles Album mit Opernszenen von Georg Friedrich Händel steht derzeit an Platz 3 der Klassik-Charts. Das Programm des Abends bietet einen Querschnitt durch die Vielfalt von Händels Opernschaffen gemischt mit einigen Instrumentalsätzen und rückt vor allem weniger bekannte Werke des bekannten Komponisten in den Fokus. Die Auswahl zielt dabei weniger auf Virtuosität und Effekt ab als auf tief empfundene Musikalität und konzentrierte Emotion. Die Spannweite reicht vom stechendsten Schmerz bis zum größten Glück, das Ganze gehüllt in edel-süße Melodik und sanftmütig-pathetische Poesie: „Bel contento già gode quest’alma, né più teme d’avere a penar. Che d’Amore la placida calma il mio seno qui giunge a bear“ (Meine Seele ist voller Wonne und fürchtet keinen Schmerz mehr. Denn die sanfte Ruhe der Liebe erfüllt mich mit Glückseligkeit) heißt es in der Arie „Bel contento“ aus der Oper Flavio. Einige der Instrumentalsätze, Rezitative und Arien sind mit sprühender Dramatik aufgeladen. Philippe Jaroussky meistert schwindelerregende Koloraturen mit spielender Leichtigkeit. Andere Stücke erklingen einfühlsam und melancholisch. Manche Momente sind schlichtweg vollkommen: Wie bei der Arie „Deggio morire o stelle!“ (Ich muss sterben, ihr Sterne) aus der Oper Siroe. Man hängt an den Lippen von Philippe Jaroussky, dessen Sopranstimme einsam und furchtlos wie Mondlicht den Saal einlullt und erfüllt.

Der geisterhaft-androgyne Countertenor des Franzosen ist unverwechselbar. Jaroussky agiert auf der Bühne mit einer ganz natürlich einnehmenden Präsenz und Ausstrahlung. Diese Stimme geht ohne Umwege unter die Haut und vermag Herzen zu berühren. Eine Stimme, die mühelos in lichte Sopranhöhen dringt und auch im Altregister ein fruchtig-süßes Bouquet entfaltet – es besteht Suchtpotenzial! Sein Ensemble Artaserse steht dem Countertenor in musikalischer Empfindung und Ausdrucksfähigkeit in nichts nach. Das Zusammenspiel der Musiker besticht durch kammermusikalische Präzision und vor allem durch Spritzigkeit und Drive. Die Spielerinnen und Spieler der Musikformation scheinen die barocke Musiksprache mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Die Leidenschaft kann man vielen Instrumentalisten ansehen. Raul Orellana heißt der Konzertmeister, der sich so genussvoll an seine historische Violine schmiegt, als gäbe es im Augenblick nichts anderes auf dieser Welt. Wer Barockmusik für statisch oder mechanisch hielt, wird hier ein für alle Mal eines Besseren belehrt.

Diese Concerti Grossi und Sinfonien atmen und pulsieren, sind belebt und beweglich. Das ist Barockmusik, die das Blut in Wallung bringt. Und genau aus diesem Grund geht man ins Konzert. Weil nur unmittelbar live vorgetragener Musik solche Magie innewohnt. Der Applaus ist riesig. Nach der zweiten Zugabe stehen 2000 Menschen auf den Beinen, jubeln und klatschen in die Hände, was das Zeug hält. Eine Elbphilharmonie außer Rand und Band. Sogar die Orgelbewacherin ist hin und weg. Als Rausschmeißer gibt es schließlich doch noch einen Evergreen: Ombra mai fù aus Händels Oper Serse (Xerxes). Und man kann nur staunen über die Reinheit, mit der Philippe Jaroussky diese zeitlos schöne Melodie erklingen lässt – 280 Jahre nach ihrer Entstehung. „Fantastisch“, „großartig“, „mitreißend“ sind Ausdrücke, die man später immer wieder hört. „Ich bin rundum glücklich mit dem, was ich hier wahrnehmen durfte“, sagt eine Besucherin.

Ein toller Typ, dieser Philippe Jaroussky, der verehrt wird wie ein Popstar. Umso sympathischer, dass der 39-Jährige im Anschluss an das Konzert noch (etwas überteuerte) CDs signiert, artig für Selfies posiert und sogar älteren Damen auf Flirtkurs tapfer die Stirn bietet. klassik-begeistert.de hat mit Philippe Jaroussky nach dem Konzert gesprochen: „Das war für mich ein wichtiger Tag“, verriet der Superstar, der an diesem Abend bereits zum sechsten Mal innerhalb von 10 Monaten in der Elbphilharmonie gesungen hat. „Im Januar war ich der erste, der in diesem Saal singen durfte, und heute war es das erste Mal, dass ich ein zweistündiges Rezital gemacht habe. Ich finde, dass die Akustik auch mit kleineren Orchestern und vor allem mit barocker Musik sehr, sehr gut funktioniert. Ich habe diesen Saal mit Trauer verlassen“ (lacht).

 

Leon Battran,für klassik-begeistert.de