Der Alltagswahnsinn
WTF
Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich viel Wert auf etwas lege, das man gemeinhin als gesunden Menschenverstand bezeichnet und ich für meinen regulären Beruf etwas besitze, was ich gerne als Systemverständnis tituliere. Beides wird dieser Tage schwer auf die Probe gestellt, bei den Entwicklungen der Ereignisse in der Ukraine stelle ich fest, dass meine dafür zuständigen Synapsen permanent Alarmmeldungen auswerfen. Das geht mit Sicherheit nicht nur mir so, für viele wird jetzt ihr überkommenes Weltbild auf den Kopf gestellt, alles muss neu bewertet werden. Meine Methode ist schon immer gewesen, um die Gedanken wieder in Ordnung zu bringen, muss man diese niederzuschreiben.
Gehen wir einfach nochmal, sagen wir zwei Wochen zurück: Wie alle war ich damit beschäftigt Viren aus dem Weg zu gehen, hatte eine jahrzehntealte Skepsis gegenüber der Nato, in so manchem Moment konnte ich sogar Verständnis für Putins Positionen entwickeln, sah den Klimawandel als die größte Herausforderung für die Menschheit in der Zukunft an, mein Set an Mad Guys in der Weltpolitik bestand aus den üblichen Verdächtigen. Selbst als Putin seine Drohkulisse an den Grenzen der Ukraine aufbaute hatte ich allenfalls Befürchtungen, mein Verstand bestand darauf, dass schon nichts Ernstes passieren wird, mein Bauch, sprich die oben erwähnten Synapsen, machten aber schon damals Radau, meine Frau kann das bestätigen, ein flaues Gefühl im Bauch machte sich breit. Nun gehöre ich zu den Menschen, die Ungewissheit und Warten schlecht abkönnen, aber wenn es dann erstmal losgeht, werde ich ruhig. Das ist jetzt auch so, und trotzdem bin immer noch täglich irritiert, viele der Einzelteile des Puzzles aus den Informationen zur heutigen Situation passen einfach nicht zusammen. Fangen wir mal an diese Teile zusammenzutragen:
Putin
Warum jetzt diese Entscheidung? Was war vorher anders, was erwartete er für später? Mir ist nichts bekannt, was sich vom üblichen Kaspertheater in der Weltpolitik unterschieden hat, ich verstehe es nicht (Dieser Nebensatz wird noch häufiger auftauchen).
Was ist sein wirkliches Ziel? Er kann doch nicht allen Ernstes glauben, dass die Welt nach so einer Aktion mal eben so wieder zur Tagesordnung übergehen wird? Diese Frage ist für mich der zentrale Themenkomplex, der die meisten Alarme schrillen lässt.
Nato
Das Verhalten der Nato und der USA war ihm immer ein Dorn im Auge, mit dieser Einstellung ist er durchaus nicht allein in der Welt gewesen. International und National stand die Nato nicht unbedingt an der Spitze der beliebtesten Organisationen, die Idee des Paktes hatte sich für viele abgenutzt, in der Folge wurde sie auch schon mal als zahnloser Tiger bezeichnet. Sollte Putins Plan gewesen sein, die Nato zu schwächen, ist dieser grandios in die Hose gegangen. Fast könnte man auf die Idee kommen, Putin wird von der Nato für eine unglaubliche Werbeveranstaltung bezahlt. Zum einen überdenken inzwischen selbst innerhalb der Nato die größten Friedensbewegten ihre Haltung, zum anderen dienen Drohungen z.B. gegen Finnland und Schweden sicherlich nicht der Verhinderung einer solchen Partnerschaft. Wäre ich Schwede oder Finne würde ich mich spätestens jetzt fragen „Hat der sie noch alle?“. Einem geistig gesunden Menschen wäre eigentlich vorher klar gewesen, dass das marketingtechnisch ein extrem schlechter Ansatz ist.
EU
Ich bin total verblüfft: Selbst die größten Querschläger wie Orban ziehen plötzlich an einem Strang, die größten Bremsen sind plötzlich die Deutschen, so vereint war die EU noch nie in ihrer Geschichte. Flüchtlinge? Klar doch, wir nehmen alle, Papiere spielen keine Rolle, Haustiere willkommen. Sanktionen? Hier und da ein bisschen zieren, und zack alles läuft wie am Schnürchen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Tage alle brexit-bedingten Zollformalitäten und Streitereien mit den Briten wegfallen. Quertreiber Johnson? Was ist der schon gegen Putin. Und überhaupt die Briten: War ich vorher geneigt die Briten mit ihrem ewigen Russendissen in die Kategorie „Die spinnen die Briten“ zu packen, muss ich wohl meine Haltung nochmal schwer überdenken.
Rest der Welt
Da war doch noch was? Ja, es gibt durchaus nicht nur Freunde der Nato in der Welt, wobei man sagen muss, dass meistens nicht die Nato, sondern die USA gemeint sind. In den beiden bevölkerungsreichsten Nationen China und Indien war die Reaktion sehr zurückhaltend, was eine Verurteilung der Invasion der Ukraine angeht, aber das ändert sich gerade. Warum? Meine Erklärung ist, dass man, egal welche Antipathien man gegen die USA hat, die Ukraine eben nicht die USA oder die Nato sind, und da sowohl China und als auch Indien sich auf der nördlichen Erdhalbkugel und ebenso von einer Eskalation des Konfliktes betroffen wären. Zudem, egal was das Verhältnis der Regierungen zu den USA beschaffen ist, arbeitet ein meinungshoheitsmäßiger wichtiger Anteil der Bevölkerung in Unternehmen, die dem Westen zuzuordnen sind, und schon von dieser Seite wird die Deutungshoheit unterminiert. Ich arbeite viel in internationalen Projekten mit Indern und Chinesen, und wer glaubt, westliche Unternehmen sind heutzutage unpolitisch, verkennt was intern kommuniziert wird.
Klima
Klima? Was hat das hier zu suchen? Naja, wer eins und eins zusammenzählen kann, sieht in der grünen Wende tatsächlich nicht nur einen Weg, den Klimawandel aufzuhalten, sondern gleich eine ganze Menge positive Optionen. Zum einen die Reduzierung der Abhängigkeit von Gas- und Öllieferungen, von wem auch immer. Zudem hat eine dezentralisierte, vernetzte Energieversorgung auch strategische Vorteile im Krisenfall. Nicht wenige Großkraftwerke, die Ziele von Angriffen werden können, sondern ein Grid, bei dem ein potenzieller Feind nirgends wirklich ansetzen kann, um die Energieversorgung zu stören. Wir titeln jetzt das Ganze in resiliente Energieversorgung um und haben plötzlich auch die ärgsten Gegner grüner Umweltpolitik im Boot. Und wir werden uns alle wundern, wie schnell so etwas umgesetzt werden kann.
Strategie
Eigentlich der dickste Brocken bei meinen Fragezeichen. Wie viele Invasionen in der jüngeren Geschichte sind wirklich erfolgreich verlaufen, haben Bestand gehabt? Ok, wir haben auf der einen Seite Russland, eine der mächtigsten Armeen der Welt, steht mit tausenden Panzern, 200.000 Mann und hunderten Flugzeugen und Hubschraubern, Marschflugkörper und allem was es so an Technik gibt an der Grenze, auf der anderen Seite die Ukraine, ein David gegenüber dem Goliath. Russland geht, zumindest nach erstem Anschein, nach dem Handbuch der modernen Kriegsführung vor. Luftüberlegenheit erlangen, alles aus der Luft kaputt machen, was euch kaputt machen könnte. Dann mal eben mit allem was das Programm hergibt einmarschieren und zack ist der Drops gelutscht, die befreite Bevölkerung jubelt, Ende gut, Alles gut. Ey, ehrlich? So naiv soll das Weltbild von Putin und seinen Generälen sein? Also mich als alter Wehrdienstverweigerer und Hobbystratege in Computerspielen hätte die Aktion nicht so wirklich überrascht. Ich hätte natürlich mein ganzes Kriegsgerümpel an strategisch platzierten Stützpunkten konzentriert und mich dann hinterher gewundert, dass das alles schon in der ersten Nacht in Flammen aufgeht…. Quatsch, natürlich nicht. Wenn ich der ukrainische Oberbefehlshaber wäre, hätte ich mich voll und ganz auf die asymmetrische Kriegsführung konzentriert, mein Zeug und Leute über das ganze Land verteilt und mich auf das konzentriert was hinterher richtig weh tut. Diese ganzen niedlichen und fiesen neumodischen Einmannraketen sind schon gemein. Kosten, im Verhältnis zu den Zielen ein Bruchteil und eine ziemliche Überraschung für den Gegner, was schon in Afghanistan und Syrien für Kopfzerbrechen bei den Buchhaltern gesorgt hat. Panzer, Stückpreis so bummelig zehn Millionen, Hubschrauber und Flugzeuge kosten glaube ich nochmal ein „bisschen“ mehr, ganz schlechte finanzielle Bilanz. Wenn ich mir ansehe, was gerade passiert, gerade auch die Zahlen, glaube ich nicht, dass die ukrainischen Streitkräfte mordsmäßig überrascht wurden. Jetzt kommen wir zu einer bösen Vermutung, die, wenn dass der russischen Bevölkerung erstmal klar wird, zu einiger Verstimmung gegenüber Putin führen könnte: Alle Welt wundert sich, warum ein großer Teil der russischen Streitkräfte immer noch nicht wirklich eingegriffen hat, und – wenn ich mal raten darf – überwiegend schweres Gerät noch nicht im Einsatz ist. Die Erklärung: Das, was jetzt im Einsatz ist, ist Kanonenfutter, menschliche Minenräumer, die dafür sorgen sollen, dass das Risiko später für den Großangriff mit teurem Material geringer ist, weil die ukrainischen Kräfte ihren coolen Stinger und was auch immer schon verschossen haben. Jetzt kommen wieder die Ukrainer ins Spiel, die ja genau so pfiffig wie die Russen sind, keine Taliban die sich schon aufs Paradies freuen, sondern auch begabte Schachspieler, die haben es zwischenzeitlich geschafft, doch noch an Nachschub an Spielzeug zu kommen, das schlechte Gewissen der restlichen Welt überzeugt selbst die blöden Deutschen genau das zu liefern, was für dieses Spiel benötigt wird. Putin oder seine Generäle denken, jetzt ist mal gut mit verschrotten, jetzt lass mal die Großen ran und legen mit schwerem Gerät los. Soon oller Panzer sieht schon echt beeindruckend und ehrfurchtgebietend aus, wehe wenn dem einer in die Quere kommt. Und wehe, wenn dem der Sprit ausgeht oder der Fahrer nichts mehr sehen kann. So ein Rieseneimer ist das Gegenteil von einem Spritsparauto, wenn ich richtig gegoogelt habe, liegt der Verbrauch bei bummelig 300 Litern/100 Kilometer und mal eben an die Tankstelle fahren fällt wegen geschlossen aus. Also lassen wir mal den Spritverbrauch des übrigen Fuhrparks außen vor und konzentrieren uns auf der Einfachheit halber auf 2000 Panzer. Die verbrauchen auf die Entfernung dann mal locker 600.000 Liter Diesel, könnte man wahrscheinlich statt auf Kilometer auf Stunden umrechnen, alle zwei Stunden 50 Tanklastzüge. Was machst du also als pfiffiger Ukrainer? Wünscht den Panzer allzeit gute Fahrt und du spielst Feuerteufel mit allem was irgendwie nach Benzinquelle aussieht, und wartest, bis den Panzern der Sprit ausgeht. Zu allem Überfluss hast du als Putin jetzt noch das Problem, dass die ohnehin schon nicht so hohe Moral deiner Soldaten jetzt so langsam den Bach runter geht, die sich schon vorher gefragt haben, was der ganze Scheiß eigentlich soll. Zu Hause ist die Stimmung auch nicht so toll, das blöde Internet verbreitet den ganzen Quatsch auch noch ungefiltert. Und jetzt wird es kniffelig und es hängt davon ab, wie sehr alle Beteiligten an ihrem bzw. unserem Leben hängen. Hoffentlich kommt dann keiner auf die Idee zu sagen, dass hätten die Ukrainer allein nie geschafft, die böse EU/Nato/Wer auch immer ist schuld, jetzt gibt es richtig Kloppe. Dann mal gute Nacht Welt.
WTF
Lange Rede kurzer Sinn: Was soll der Scheiß, mir kann doch keiner erzählen, dass dieses Drehbuch beiden Seiten nicht klar ist. Und das führt mich wieder zu meinen anfänglichen Fragezeichen, ich verstehe nicht, wie jemand, der nur halbwegs geistig gesund ist, dieses Spiel auch nur anzufangen kann und in Kauf nehmen, die Welt in Schutt und Asche zu legen, was sind die wirklichen Motive dahinter? Russland ging es gut, seinen Eliten exzellent, alle hätten sich dumm und dusselig verdienen können, Ende gut alles gut. Geistig gesund klingt das alles für mich nicht.