Ans Licht
Hildegard Thevs erforscht die Biographien von Hamburger Opfern des Nationalsozialismus
Sie arbeitet gegen das Vergessen der wohl tabuisiertesten Opfergruppe. Ihren hartnäckigen Fragen und ihrer Forschung ist zu verdanken, dass das Leben und die Ermordung von Säuglingen und Kleinkindern im ehemaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort in der Marckmannstraße nicht vergessen werden können. Hildegard Thevs (geb. 1940) recherchiert als ehrenamtliche Mitarbeiterin des Stadtteilarchivs Hamm Biographien von Hamburger Opfern des Nationalsozialismus.
An der Stelle, an der sich heute das Hamburger Landesinstitut für Lebensmittelsicherheit, Gesundheitsschutz und Umweltuntersuchungen befindet, eröffnete 1922 auf Initiative des jüdischen Kinderarztes Carl Stamm ein Kinderkrankenhaus. Was zuerst ein großer Fortschritt in der modernen medizinischen Versorgung der Hamburger Kinder war, entwickelte sich unter Stamms Nachfolger, dem NSDAP-Mitglied Wilhelm Bayer, von 1940 bis 1945 zu einem Tötungsort für Kinder mit einer Behinderung. 1949 ging der Hamburger Oberstaatsanwalt nach Vernehmung von 162 Zeuginnen und Zeugen davon aus, dass Bayer im Rahmen eines komplexen Euthanasieprogramms 56 Kinder habe töten lassen. Heute erinnert an der Fassade eine schwarze Tafel an die Kindermorde.
Bei 34 der ermordeten Kinder gelang es Thevs, einen Teil der Lebens- und Krankengeschichte zu rekonstruieren. Keine einfache Aufgabe, denn viele Unterlagen wurden durch Bombardierung, Kriegswirren und den Ablauf von Aufbewahrungsfristen vernichtet. Bei den noch vorhandenen Unterlagen, die von den Tätern bei Kriegsende nicht mehr vernichtet werden konnten, ist davon auszugehen, dass diese von den Ärzten und Schwestern, die an den Tötungen beteiligt waren, bewusst verfälscht worden waren, um die Morde zu verschleiern. So war sie bei ihrer Arbeit zu einem wesentlichen Teil auf die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft mit den Vernehmungsprotokollen angewiesen, die, wie sie sagt, „mit großer Vorsicht zu betrachten sind, da die Vernommenen nicht das Interesse hatten, sich selbst zu belasten“.
Ermordet wurden die Kinder mit Luminal. Das Medikament, das auch heute als Beruhigungsmittel bei Epilepsie verwendet wird, erzeugt bei Überdosierung tiefe Bewusstlosigkeit und Atemlähmung, die zur tödlichen Lungenentzündung führt, an deren Ende die kleinen Euthanasie-Opfer an Kreislaufversagen starben. „Die sehr schmerzhaften Injektionen der großen Mengen der öligen Flüssigkeit in die Muskulatur von Gesäß oder Oberschenkel nahmen die Ärztinnen und Ärzte vor, wobei bis auf wenige Ausnahmen die Stationsschwestern die Säuglinge und Kleinkinder festhalten mussten, um zu verhindern, dass die Kanülen abbrachen, wenn die Kinder sich wehrten“, beschreibt Thevs den Ablauf der Ermordung in dem Buch „Stolpersteine in Hamburg-Rothenburgsort. Biographische Spurensuche“.
Die Tatsache, dass keiner der an den Morden Beteiligten angeklagt und verurteilt wurde, macht auch über 70 Jahre später immer noch fassungslos. Das Landgericht im damals britisch besetzten Hamburg bestätigte zwar, dass die Täter „gegen das allgemein anerkannte Sittengesetz, gegen die medizinische Ethik und gegen das allgemeine Strafgesetz verstoßen haben“, ein Nachweis der persönlichen Schuld aber nicht möglich sei. Und so konnten die Täter ungestraft leben und in ihrem Beruf als Ärzte und Ärztinnen weiterarbeiten.
Das Leben und der Tod der Kinder und das Wirken des Arztes Carl Stamm erfuhren nach den Recherchen Hildegard Thevs eine Würdigung: Stolpersteine mit ihren Namen, Geburts- und Todesdatum wurden im Oktober 2009 vor dem Institut für Hygiene und Umwelt eingeweiht. Ein weiterer Stolperstein ist den weiterhin unbekannten ermordeten Kindern gewidmet. 2010 wurde ein Park in Rothenburgsort nach Carl Stamm, der nach einer Zeit der Demütigung und Entrechtung am 28. Oktober 1941 starb, benannt.
Das Buch mit den Biographien der fast vergessenen Kinder vom Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, die Hildegard Thevs besonders am Herzen liegen, sowie der vielen anderen NS-Opfer, an die Stolpersteine in Rothenburgsort erinnern, ist erhältlich bei der Landeszentrale für politische Bildung, Dammtorwall 1.
Weitere Dokumentationen zur „Biographischen Spurensuche“ sind dort ebenfalls gegen eine Bereitstellungspauschale erhältlich.