Das trügerische Gedächtnis
Die Rechtspsychologin Julia Shaw zu Gast im KörberForum
Den Bauern haben sie im Oktober 2001 zerstückelt und an die Hunde verfüttert, so gestehen es die vermeintlichen Täter. Im März 2009 findet man die Leiche desselben Bauern in seinem Auto, das in der Donau versunken war. Dieser Fall beschäftigte die Justiz: Wie kann jemand eine Tat exakt beschreiben und gestehen, die er so nicht begangen hat?
Die deutsch-kanadische Rechtspsychologin Dr. Julia Shaw beweist, dass unser Gedächtnis nicht nur vergisst, sondern auch Ereignisse erinnert, die wir nicht erlebt haben. Ende September stellte Shaw nicht nur ihr neues Buch „Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ im KörberForum vor, sondern gab in einem Gespräch einen Einblick in ihre Arbeit als forensische Psychologin.
Falsche Erinnerungen fühlten sich echt an, so Shaw. Erinnerungen säßen überall im Gehirn, man brauche nur einen Teil aktivieren, dann würde sich, wie in einem Netzwerk, ein Gesamtbild aufbauen. Erfahrungen, die wir unter Umständen nur aus Erzählungen kennen, werden in unsere Erinnerungen eingebaut, wenn sie dazu passen. Erinnerungen seien ein sozialer Prozess: irgendwann können wir nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob das, was wir erinnern, wirklich so stattgefunden habe.
In ihren Forschungen mit Probanden, die aus Studenten bestanden, kann Shaw beweisen, dass wir alle falsche Erinnerungen mit uns tragen. Für ihre Studie bat sie die Eltern der Studenten, ihnen ein positives Erlebnis aus der Zeit ihrer Kinder detailliert zu beschreiben, als diese zwischen elf und 14 Jahren alt waren. Ein negatives Erlebnis, das eine Konfrontation mit der Polizei beinhaltete, dachte Shaw sich aus. Die Studenten wurden mit den wahren und den ausgedachten Erlebnissen aus ihrer Kindheit konfrontiert. 70 Prozent der Probanden gaben an, sich auch an die negativen – von Shaw frei erfundenen Situationen – zu erinnern; sie begannen sogar, diese auszuschmücken, erinnerten sich zum Beispiel an die Farben der Wände auf der Polizeiwache. Das De-Briefing überraschte die Studenten.
Viele Menschen, die unschuldig im Gefängnis sitzen, haben falsche Erinnerungen, auf deren Grundlage sie verurteilt wurden. Der Mensch neige dazu, von sich selbst zu glauben, dass er überdurchschnittlich sei, und auch, dass wir uns selbst am besten erinnern, so Shaw. Dazu kommt, dass Polizisten einen Tunnelblick bekommen, wenn sie sicher sind, dass sie den „Richtigen“ gefasst haben.
Shaw gilt als Shootingstar auf dem Gebiet der forensischen Psychologie; sie wird international bei Polizei, Militär und Gerichtsprozessen eingesetzt. Als guten Tipp gibt sie mit auf den Weg: Wenn man zum Beispiel in einen Unfall verwickelt oder Zeuge ist: „Verbalisieren Sie das Erlebte, schreiben Sie es nach Möglichkeit sofort auf.“ Und: „Leben Sie im Jetzt, alles andere ist Fiktion.“