Arithmetik der Ängste
Die komplexe Realität und die darauf nötigen Antworten überfordern die Gesellschaft und die etablierten Parteien
Das war sie also, die Bundestagswahl 2017 mit ordentlich Aufregung und einem spannenden Ergebnis, das die Bundespolitik noch lange beschäftigen wird. Blickt man auf Hamburg und insbesondere auf den Bezirk Mitte, bieten allein schon die Zahlen ein interessantes Mikroabbild der Makrowirklichkeit in Deutschland.
Mitte ist ein Bezirk der Extreme. Da haben wir die HafenCity mit dem höchsten FDP-Ergebnis aller Stadtteile (23,1 Prozent) und einer der höchsten Wahlbeteiligungen (86,4 Prozent), eine Hochburg des aufgeklärten Bürgertums. Aber auch abseits des Zentrums des politischen Spektrums hat der Bezirk so einiges zu bieten. Da hätten wir zum Beispiel das höchste Ergebnis für die Linken auf dem kleinen Grasbrook (42 Prozent) und das höchste Ergebnis der AfD in Hamburg in Billbrook (27,6 Prozent), gleichzeitig auch der Stadtteil mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in Hamburg (50,5 Prozent). Gleich nebenan in Billstedt konnte die SPD eines ihrer höchsten Ergebnisse erzielen (32,3 Prozent), die wiederum auf dem kleinen Grasbrook den niedrigsten Anteil in Hamburg hatte (10,4 Prozent). Die CDU konnte dort auch nicht punkten und erreichte ebenfalls ihren Tiefpunkt hier (4,9 Prozent). Die nächstniedrigen Platzierungen für die CDU gehen auch in den Bezirk Mitte (Veddel und St.Pauli, die im Übrigen auch starke Plätze bei den Linken belegen). Startet man mit einer weitergehenden Analyse der Zahlen beginnen die Rätsel: In Billbrook haben 83,3 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, damit fällt die gängige Theorie, dass die AfD nur von deutschen Rassisten gewählt wird – ähnliche Zahlen findet man im Übrigen auch bei anderen AfD-Hochburgen in Hamburg. Es scheint dabei nicht generell um einen Migrationshintergrund zu gehen, sondern um bestimmte Persönlichkeitsprofile. Der Soziologe Holger Lengfeld hatte im Vorwege der Wahl versucht politische Entscheidungen mit differenzierteren Einordnungen zu kategorisieren abseits von dem jetzt gerne benutzten Gut und Böse. Demnach gehen der Riss – oder die Risse – auf einer ganz anderen Ebene durch die Gesellschaft. Bestimmt wird das öffentliche Leben durch die Klasse der liberalen Kosmopoliten mit alternativen Lebensentwürfen, auf der Gegenseite stehen konservative kulturelle Modernisierungsverweigerer – ein Begriff der hier nicht negativ gemeint ist – die Veränderungen scheuen, ein geregeltes Leben in geordneten Bahnen mit einem starken Vater Staat wünschen, Menschen denen Schlagworte wie Digitalisierung, Klimawandel und Planungsunsicherheit Angst machen und diese rational negieren und bei den etablierten politischen Parteien keine Heimat mehr finden. Zwischen diesen beiden Extremen finden sich sicherlich noch Variationen, wer aber einen Musterstadtteil der Kosmopoliten sucht wird sicherlich in der HafenCity fündig. Weltoffen, ein Drittel mit Migrationshintergrund, mit arbeitsmobilen Menschen, einem hohen Anteil an Selbstständigen, Freiberuflern oder in international agierenden Konzernen angestellt, heute an der Elbe, morgen in London, Paris oder sonst wo. Liberal, affektiv FDP wählend, auch wenn möglicherweise nicht jedem klar ist dass die vorherrschende Europafreundlichkeit nicht generell in der FDP geteilt wird. Eine Insel der Glückseligen, die ihr Leben selbst in der Hand haben. In der deutschen Wirklichkeit sieht es aber meist anders aus. Zukunftsängste, der Verlust von Werten und eine rasante Entwicklung, lassen viele den Anschluss verlieren, nicht wirtschaftlich sondern kulturell, nicht umsonst ist „disruptiv“ das Schlagwort der Stunde. Ernstzunehmende Versuche, alle mit auf die Reise zu nehmen fehlen bei den etablierten Parteien. Es wird zwar mit Schlagwörtern wie Digitalisierung um sich geworfen, doch tiefergehendes Wissen fehlt. Es liegen vier schwere Jahre vor der Politik – und die AfD ist nur ein Symptom der Probleme, nicht die Ursache. n MB