Eine Nation in Schande
„Ich habe das nicht geträumt, Annick! Du glaubst mir doch, nicht wahr? Namen, Daten, Orte – ich habe dir alles erzählt. Dabei wollte ich vor einem Gericht aussagen! Warum muss ich mich schämen? Warum muss ich mich verstecken? Warum sollte ich für all das zahlen, was er mir angetan hat?“
Soraya, ein hübsches libysches 15-jähriges Mädchen, wird auserwählt, dem Diktator Muammar al-Gaddafi bei einem Schulbesuch Blumen zu überreichen. Gaddafi legt seine Hand auf ihr Haupt; das Zeichen, dass seine Untergebenen das Mädchen in den Palast bringen sollen. Einen Tag später erscheinen drei Frauen im Frisörsalon der Mutter und nehmen Soraya unter einem Vorwand mit. Soraya ist eines von vielen jungen Mädchen, die im Keller von Bab al-Aziziya als Sexsklavin über viele Jahre eingesperrt sein wird, keine Chance auf ein Entkommen, ohne wieder gefangen zu werden, keine Chance auf die Wiederaufnahme in die eigene Familie, für die die Vergewaltigung einer jungen Frau Schande bringt, keine Chance auf ein normales Leben. Sie muss dem Diktator Tag und Nacht zur Verfügung stehen, wird brutal misshandelt, gedemütigt und missbraucht, wird gezwungen zu trinken, zu rauchen und Drogen zu nehmen. Die von Gaddafi propagierte Gleichberechtigung der Frau, die er mit einer Militärakademie von Frauen und weiblichen Leibwachen zu untermauern versucht, ist eine Farce. Die Akademie ist nur eine von vielen Institutionen, die ihm Frauen zuführt, die meisten Leibwächterinnen sind seine Sexsklavinnen. Belächelt von allen Nationen, unter den Augen der Welt gehen sie durch die Hölle.
Als Gaddafi 2011 gestürzt und getötet wird, ist das Martyrium für Soraya nicht vorbei. Sie bleibt mit ihrem zerstörten Leben zurück – genauso wie Libya, Hadija, Laila, Amal und viele andere. Sie müssen in ihrer Gesellschaft um ihr Leben fürchten, sind ausgestoßen von ihren Familien – und kein Gericht wagt es, ihre Fälle zu verhandeln oder Anklage zu erheben.
Annick Cojean ist seit über 30 Jahren Sonderkorrespondentin bei Le Monde und versucht, Licht ins Dunkel dieses Tabuthemas zu bringen. Viele verweigern die Interviews, und die, die sprechen, tun dies meist unter dem Versprechen, dass ihre Namen und konkreten Umstände nicht genannt werden, aus Angst um ihr eigenes und das Leben ihrer Familien.
„Niemand hört mein Schreien“ ist in zwei Teile gegliedert: im ersten Teil berichtet Soraya über ihr Leben als Gefangene im Palast Gaddafis. Im zweiten Teil kommen weitere Zeugen zu Wort, die Sorayas Geschichte Stück für Stück bestätigen; Cojean sammelt Beweise für diese unfassbare Wahrheit, die von vielen nicht angenommen wird. Sprachlich ist das Buch schlicht gehalten, beschönigt nichts des Erzählten.
„Es kommt häufig vor, dass Artikel geschrieben werden, die keiner wünscht. Aber es ist schließlich die Aufgabe von Journalisten, Themen zu bearbeiten, die stören, Informationen zutage zu fördern, die irritieren, Wahrheiten ans Licht zu bringen, die für Ärger sorgen.“
„Niemand hört mein Schreien“ ist ein grausames Buch und ein unvorstellbares Zeitdokument, das mit dem Grand Prix de la Presse Internationale ausgezeichnet wurde.
Annick Cojean: „Niemand hört mein Schreien – Gefangen im Palast Gaddafis“. Die Taschenbuchausgabe ist am 20. Juni 2014 im Aufbau Verlag erschienen. 296 Seiten, 9,99€