Frieda flucht
…oder Ein Blick in die Zukunft
Frieda flucht. Es ist Freitagabend, 19:40 Uhr. Frieda wartet an den Landungsbrücken auf die Fähre 72, die sie zur Elbphilharmonie bringen soll. Dort steht heute Bruckner auf dem Programm: Symphonie Nr. 7. E-Dur. Es ist die hellste und freundlichste aller Bruckner-Symphonien. Hier draußen an der Brücke ist es allerdings nicht hell, und Frieda, sonst eine freundliche alte Dame von 73 Jahren, ist nun am Fluchen. Es regnet, es ist kalt und stürmisch. Friedas Schuhe sind bereits durchgeweicht, der Wind zerrt an ihrem neuen Rock. In 20 Minuten beginnt das Konzert, aber die Fähre ist nach wie vor nicht in Sicht. Frieda zieht ihren Hut noch etwas tiefer ins Gesicht, um sich besser vor dem Regen zu schützen. Die Frisur ist eh nicht mehr zu retten. Wäre ich doch bloß mit der U-Bahn bis zum Baumwall gefahren, seufzt sie. Aber dafür ist es jetzt zu spät.
„Ach Heiner, hätten wir doch bloß die Fähre genommen“, mault Melanie. Seit einer halben Stunde steckt das Paar bereits am Sandtorkai fest, mitten im Stau. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Beide haben sich extra zurechtgemacht, um zu ihrem Konzert aus der Abo-Reihe D mit den NDR-Sinfonikern zu kommen.
„Es ist jetzt 19:45 Uhr – das schaffen wir doch nie!“
„Hab ich doch gleich gesagt, dass wir bei unserem Abo in der Staatsoper bleiben – aber du? Du wolltest ja unbedingt in die Philharmonie wechseln, weil da jetzt alle hingehen“, meckert Heiner.
„Ich hab doch zu Dir gesagt: Heiner, lass uns die Fähre nehmen!“
„Ach, jetzt bin ich also daran schuld, dass die Verkehrssituation hier in der City so mies ist? Was gibt es denn heute überhaupt?“
„Bruckner.“
„Bruckner???“
„Bruckner“.
„Wenigstens eine Oper?“, fragt Heiner.
„Natürlich nicht. Das hab ich dir doch gleich gesagt, dass in der Elbphilharmonie keine Opern
gespielt werden können. Höchstens konzertant.“
„Na super – fünf Stunden Götterdämmerung konzertant – das stelle ich mir ja ganz großartig vor.“
„In der richtigen Untergangsstimmung wären wir da gerade schon. Aber heute gibt es Bruckner. Nicht Wagner.“
„Wenn es für uns heute überhaupt noch ein Konzert gibt – bei dem Stau.“
„Miste!“, ruft Marta, als auf der Niederbaumbrücke ihr Regenschirm umklappt. „Den hättest Du bei diesem Herbststurm gar nicht aufspannen brauchen“, ruft Louise, doch Marta versteht sie kaum, der Wind weht Louises Stimme in die andere Richtung. Die beiden Rentnerinnen stemmen sich gegen den Wind. „Hätten wir doch bloß das Auto genommen“, seufzt Louise. „Was sagtest Du?“ „Halte bloß Deinen Hut fest! Und pass auf, dass Du nicht ausrutscht, hier ist es ja spiegelglatt auf der Brücke!“ Louise hakt sich bei Marta unter. Es ist 19:50 Uhr. In zehn Minuten beginnt das Bruckner-Konzert, auf das sie sich schon so lange gefreut haben. „Hoffentlich schaffen wir es noch rechtzeitig, so ein Ärger, dass die U-Bahn auch noch so viel Verspätung haben musste.“
19:55 Uhr: Frieda hastet vom Anleger Elbphilharmonie. Der Holzsteg ist vom Wasser ganz rutschig, und Frieda bereut es, dass sie ihre Schuhe mit dem Absatz angezogen hat. Aber wenn man in die Philharmonie geht, gehen Wanderschuhe ganz und gar nicht.
20 Uhr: Melanie spurtet zur Garderobe. Heiner hat sie im Stau zurückgelassen. Vor ihr stehen Marta und Louise mit ihren Mänteln in der Hand. Und dem kaputten Regenschirm.
20:05 Uhr: „Meine Damen, ich bedaure es sehr, ich kann Sie erst in der Pause einlassen, das Konzert hat schon begonnen.“ Marta und Louise, nass und vom Winde verweht, schauen sich sprachlos an. Frieda mag nicht mehr fluchen. „Und das alles wegen der blöden Verkehrsanbindung“, schimpft Melanie. Aber die lässt sich jetzt nicht mehr ändern. (AF)