Grenzgänger

Foto 17.04.15 18 21 29Buchtipp

„Mach dir keine Sorgen, ich achte darauf, dass du bei mir bleibst. Irgendeinen hellen Punkt wird es in dir auch morgen früh noch geben, und das reicht mir, um dich aufzuwecken. Wenn du untergehst, hole ich dich wieder herauf.“

Es gibt viele Bücher, die einen zum Weinen oder zum Lachen bringen, die unterhalten, berühren, belehren, begeistern – und die man dann irgendwann wieder vergisst. Es gibt wenige Bücher, die einem in Erinnerung bleiben, und dann gibt es das eine, das wachrüttelt, einem nahegeht und etwas in einem verändert. „Das größere Wunder“ des Österreichers Thomas Glavinic ist so ein Buch.

Jonas wächst zusammen mit seinem behinderten Zwillingsbruder bei seinem Freund Werner und dessen Großvater Picco auf. Was Picco genau treibt, wissen sie nicht, außer, dass er sehr reich ist, viele Angestellte hat und einem Mafiaboss anmutet. Die Kinder haben Privatlehrer und dürfen ansonsten machen, was sie wollen: Grenzen werden ihnen nicht gesetzt, im Gegenteil: Sie reisen um die Welt und testen selbst ihre Grenzen aus.

„Solange du lebst, kannst du immer noch mehr Schmerzen ertragen, noch Schwierigeres bewältigen, deine Grenzen noch weiter verschieben. Alles kannst du schaffen, alles!“  

Doch die ungewöhnliche Kindheit wird durch mehrere harte Schicksalsschläge beendet.

Der Leser trifft den erwachsenen Jonas im Basislager im Himalaya. Er will den Mount Everest besteigen. Auf den einzelnen Etappen zur Spitze sieht er sein Leben an sich vorbeiziehen, seine Kindheit und seine Liebe zu Marie, unterbrochen von der Schwere des Aufstiegs, der Höhenkrankheit, den Halluzinationen, den Lawinen, die Menschen unter sich begraben, den Toten, die er in der Leichengasse sieht. Wird er seine große Liebe Marie wiedersehen? Und welche Grenze wird er bei der Besteigung des Mount Everest verschieben oder gar überwinden?

Glavinic hält sich nicht mit logischen Dingen und Kleinigkeiten auf: Wie zum Beispiel drei kleine Jungs bei einem zwielichtigen älteren Mann aufwachsen können, ist unklar, genauso wie die Tatsache, dass der hochbegabte Jonas, der sich fragt, wie er der werden kann, der er ist, sämtliche Sprachen dieser Welt versteht – aber das ist auch egal. In „Das größere Wunder“ geht es um Größeres: um Liebe, Grenzüberschreitung, Mut, Freiheit und um das Wunder – und das alles wird mit einer Leidenschaft geboten, die ihresgleichen sucht: Der Fantasie werden keine Grenzen gesetzt, genauso wenig wie den Gefühlen – viele Passagen und Dialoge sind witzig, viele hintergründig, ebenso viele sind emotional.

Die Expedition zum Gipfel des Mount Everests bestreitet Jonas nicht allein – (nicht nur) der Leser ist in unmittelbarer Nähe, vergisst zusammen mit Jonas zu essen und zu trinken und blättert bei winterlichen Temperaturen mit klammen Fingern die Seiten um.

Kurz gesagt: ein großartiges Buch.

Der Autor Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, unter anderem den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Seine Romane sind in 18 Sprachen übersetzt.

Thomas Glavinic’ „Das größere Wunder“ ist als Taschenbuch bei dtv im April 2015 erschienen.

528 Seiten, 11,90 Euro