HARBOURFRONT: Dotschy Reinhardt
Unbekannter Lohseplatz
Die Frage „Wo ist der Lohseplatz?“ schwebte über dem dritten „Blind Date“ des Harbourfront-Festivals und man wollte den suchenden Zuhörern zurufen: „Such die Oberhafen-Kantinen!“, doch der Ruf erreichte nicht viele Gäste. Oberhafen-Kantinen ist im Übrigen kein Schreibfehler, sondern Realität, denn das Festivalzelt befand sich unmittelbar hinter Holzkopie der OHK, die am Sonntag eingeweiht werden soll. Ob es der Ort war, oder der relativ hohe Preis, der viele Gäste davon abhielt die wirklich interessante Kombi-Veranstaltung von Dotschy Reinhardt zu besuchen, man weiß es nicht. Tatsache war jedoch, dass es die erste Veranstaltung bei den „Blind Dates“ war, die nur zu einem Drittel besetzt war. Schade, denn zumindest des musikalische Teil brachte Jazz in bester Qualität und für einige Zuschauer scheinbar überraschend auf die Bühne. Wer bei einer Lesung über ein Buch über Sinti- und Roma-Geschichte feurige Sinti-Musik mit Lagerfeuer-Romantik erwartet hatte, war an diesem Abend am Lohseplatz definitiv verkehrt. Geboten wurde Jazz mit brasilianisch-portugiesischen Einschlag gesungen zum Teil in Romanes, der Sprache der Sinti und Roma. Musik, die auch ohne die sprachliche Exotik ihren Bestand hätte, geboten von einer wirklich guten Band und Dotschy Reinhardt als Sängerin mit ausdrucksstarker Stimme.
Dotschy Reinhardt, Mitglied einer Großfamilie, zu der auch der legendäre Djang Reinhardt gehörte, stellte im ersten Teil ihr Buch „Gypsy – Die Geschichte einer großen Sinti-Familie“ vor, in der es genau um diese Großfamilie geht, die seit mehr als 600 Jahren in Deutschland lebt und damit länger als die meisten Nachbarfamilien mit hellerer Hautfarbe. Und genau mit diesen und ähnliche Vorurteilen soll das Buch aufräumen und aufklären. Befragt wird Dotschy dabei von einem weiteren Mitglied der großen Familie Reinhardt, der Journalistin, Musikerin und Psychologin Susie Reinhardt aus Hamburg. Zwei entgegengesetzte Seiten derselben Medaille, fast wie um zu beweisen, dass erst Vertreibung und Deportation die Vorurteile erzeugt haben, mit denen ein seit 600 Jahren integrierter Volksstamm nicht nur früher zu kämpfen hatte.
Angefangen mit dem heute negativ belegtem Begriff Zigeuner, der eben nicht von „ziehenden Gaunern“ sondern vom griechischen Atsinganoi oder dem persischem Ciganch, Musiker oder Tänzer abstammen soll und heute die wenigsten Sinti wirklich umherziehen sondern genau wie ihre nicht-Sinti-Nachbarn nur im Urlaub Wohnwagen und Wohnmobile bevorzugen. Dotschys Urgroßvater Bernhard Pfisterer war Geigenhändler, nahm am ersten Weltkrieg teil und wurde verwundet und erst die Nazis sorgten mit Enteignung und Vertreibung für ein Leben erst als Wanderarbeiter und Erntehelfer und dann für ein Martyrium durch eine Reihe von KZ, darunter auch Neuengamme in der Nähe von Hamburg. Denkbar knapp der Gaskammer entkommen – das Gas strömte schon ein, als Musiker für das KZ-Orchester in letzter Minute aus der Gaskammer geholt wurden –war einer der ersten Sinti der für die erlittenen Leiden Wiedergutmachung bei der Bundesregierung beantragte. Sinti sind diejenigen, die vor 600 Jahren von Indien aus in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind, Roma kamen überwiegend in jüngerer Zeit aus dem Balkan und der Türkei nach Deutschland. Meist als Vertriebene und Flüchtlinge aus den Bürgerkriegen und Veränderungen der jüngsten Vergangenheit müssen sie erst noch wieder Fuß fassen.
Ein interessanter Abend, der für alle etwas bot, durchaus etwas zu lernen war, und dessen musikalischer Teil auch ohne einen „Betroffenheitsbonus“ Bestand hatte.