HARBOURFRONT: Katastrophenlogistik
Blind Date bei Kühne + Nagel
Man kann das Harbourfront-Literaturfestival geplant angehen, sich brav seine Lieblingsautoren heraussuchen und sich anhören was man eh schon vorher gelesen hat, oder man kann Roulette spielen und sich überraschen lassen, was sich unter den rund 80 Veranstaltungen an Perlen oder Reinfällen finden läßt. Gut beraten scheint, wer sich in der Nähe der Cap San Diego aufhält und sich als Literaturgroupie in der Nähe der Bar herumtreibt, um Spontanlesungen zu erleben, oder um doch noch in eine eigentlich ausverkaufte Veranstaltung hereinzurutschen. Die zweitbeste Idee: Ein „Blind Date“ nach Orten. Einer der Favoriten: Der Kühne + Nagel Konferenzsaal im 11.Stock der Deutschlandzentrale in der HafenCity. Gegenstand der „Lesung“: Katastrophenlogistik 8 Jahre nach 9/11. Klingt dröge, hätte es auch werden können, war es aber nicht, nicht zuletzt durch einen Co-Gast der Veranstaltung, dem Chirurgen Richard Munz.
Doch von vorne. Aufhänger ist das Buch „Disaster Relief Logistics“ von Sabine Friederike Schulz und handelt vereinfacht gesagt von einer wissenschaftlichen Analyse von Katastrophenhelfer-Logistik und deren Verbesserung durch Auslagerung von Funktionen an private Dienstleister. Ein Schelm, der sich Böses dabei denkt und einen Zusammenhang zwischen Veranstaltungsort, Herausgeber und Hauptgeldgeber des Festivals herzustellen versucht. Dennoch war der Konferenzsaal gut gefüllt, und nicht wegen Menschen, die die Aussicht genießen wollten. Zusammen mit der Autorin des Buches Sabine Friederike Schulz am Kopf des Konferenztisches: Philippe Tufingki, Experte für Katastrophenhilfe, Andreas Losch von der Welthungerhilfe und Richard Munz, Katastrophenhelfer unter anderem vom DRK und Buchautor von „Im Zentrum der Katastrophe“, einem Blick hinter die Kulissen des internationalen „Katastropengeschäftes“. Sabine Schulz, im besten Doktoranden-Denglisch, stellte in ihrer Einführung die These auf, dass das internationale Katastrophenhelfergeschäft besser und effizienter von privaten Logistikdienstleistern zu erledigen ist, wurde aber von den Praktikern ziemlich schnell ausgebremst. Sowohl Andreas Losch, als auch Richard Munz versuchten mit zum Teil drastischen Beispielen den harten und sich jeglicher Normierung entziehenden Alltag der Hilfsdienste aufzuzeigen.
Wie verbucht man 200 Dollar, die eine russische Patrouille verlangt, damit man unbehelligt passieren kann? Und wo bekommt man LKW für einen Transport nach Somalia, wo alle etablierten Dienstleister abwinken und lokale Dienstleister die einzige Chance sind, Hilfe dahin zu bekommen, wo sie benötigt wird. Der charismatische Munz und Andreas Losch gewährten einen Blick hinter die Kulissen, die für Fernsehzuschauer aus einem Mosaik von Tagesschau-Berichterstattungen besteht, die häufig nur das eine Ziel haben Spenden zu generieren. Wo aufgrund eines Berichtes 23 Hospitäler an einen Ort geschickt werden, weil es an zentraler internationaler Koordination mangelt. Und Koordination ist dringend notwendig.
Je nach Region und Katastrophe sind über tausend Hilfsorganisationen aus aller Herren Länder unterwegs. Die deutsch oder westlich zentrierte Sicht auf Katastrophen in der dritten Welt verbauen den Blick auf die wahren Verhältnisse und sind vordringlich zu beseitigen. Häufig sei die beste und schnellste Lösung lokale Hilfsorganisationen vor Ort mit Geld zu versorgen und darüber hinaus dafür zu sorgen, dass für den Fall der Fälle genügend passendes Material vorgehalten wird.Folgt der Zuhörer den Schilderungen der drei Katastrophenhelfer könnte er sowieso auf die Idee kommen, dass das einzige was fehlt, ist eine zentrale Koordinierungs- und Zertifizierungsstelle bei der UNO, bei der sich die Hilfsorganisationen melden und ihre Einsätze abrufen müssen. Abseits davon war aber dieses „Blind Date“ im Konferenzsaal von Kühne + Nagel überraschend unterhaltsam und informativ, jenseits vom üblichen, jenseits von dem was man auf Literaturfestivals erwartet würde.