Literatur zur Lage

Jan Ehlert wohnt und lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher: Lesen,darüber sprechen und darüber schreiben sind seine Leidenschaft

Ein Neues Jahr ist angebrochen. Ein Jahr voller Chancen und Möglichkeiten, oder, wie es Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ so schön beschrieben hat: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“.

Doch vielleicht will sich der Zauber bei vielen von uns in diesem Jahr nicht so richtig einstellen. Es überwiegt die Sorge vor der Zukunft. Überall schwelen die Konflikte auf der Welt und so manche Sicherheit, die wir liebgewonnen haben, wurde in den vergangenen zwölf Monaten infrage gestellt: Wo geht es hin mit Europa? Was wird aus den USA unter Präsident Trump? Und wie soll es in Deutschland weitergehen, wenn sich bis Jahresende nicht einmal eine Regierung finden ließ?

Doch Hesse hat auch diese Unsicherheit bedacht. Ja, er sieht gerade in ihr unsere Chance. „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ Die Literatur ist voller Beispiele von Menschen, die aufbrechen, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“ reift so zum Mann, Jonathan Swifts „Gulliver“ gewinnt an Toleranz. Und in Ray Bradburys „Fahrenheit 451“, das von einer Welt erzählt, in der Menschen rund um die Uhr von Bildschirmen beschallt werden und das Denken abgeschafft ist, sind es nicht zufällig Bücher, die einigen die Kraft geben, aus diesem Leben auszubrechen. Ja, Ungewissheit kann ungeahnte Kräfte hervorrufen.

Blickt man auf die Herausforderungen unserer Zeit, dann lohnt es, die Romane des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago zu lesen. In „Das steinerne Floß“ findet er – 30 Jahre vor dem Brexit – eine schöne Metapher für das Auseinanderbrechen Europas: Die Iberische Halbinsel löst sich plötzlich vom europäischen Kontinent und treibt unaufhaltsam ins Meer hinaus. Während viele Bewohner verzweifeln, machen sich fünf Unentwegte auf die Suche nach der Ursache – und finden so ihr eigenes Glück. In „Die Stadt der Blinden“ verlieren alle Bewohner einer Stadt ihr Augenlicht. Chaos bricht aus. Nur eine Frau kann weiterhin sehen – und diese eine Person mit Weitsicht kann die Menschheit wieder aus ihrer Blindheit herausführen.

Die Literatur zeigt uns, dass es lohnt, am Zauber des Neuanfangs festzuhalten. Die jüdische Dichterin Mascha Kaléko hat das in ihrem Gedicht „Die frühen Jahre“ auf den Punkt gebracht: „Auf nichts war Verlass. Außer auf Wunder.“ Auf dass 2018 ein wundervolles Jahr wird!

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