Sex, Drugs und WingTsun
Interview mit Bestsellerautor Thomas Glavinic und WingTsun-Großmeister Keith R. Kernspecht
Sex, Drugs & Rock’n’Roll bietet der Rockstar unter den Autoren, Thomas Glavinic, mit seinem neuen Roman „Der Jonas-Komplex“.Ein Buch, drei mitreißende Geschichten und drei Pro-tagonisten, die sich die Frage stellen, wer sie sein wollen.
In der Psychologie bezeichnet man mit dem Jonas-Komplex die Tendenz, Herausforderungen mit Zurückhaltung zu begegnen und diese nicht als Chancen zu begreifen.
Es ist die Furcht vor der eigenen Größe.
Der HafenCity Zeitung hat nicht nur Thomas Glavinic ein Interview gegeben, sondern auch der berühmte WingTsun-Großmeister Keith R. Kernspecht, der als Romanfigur im Buch erscheint.
Der Jonas-Komplex greift Themen, Protagonisten und Stil vorangegangener Bücher auf („Das bin doch ich“, „Das größere Wunder): Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das in einem Roman weiterzuführen beziehungsweise war es eine logische Entwicklung, diese „Fusion“ einzugehen?
Thomas Glavinic: Es war weniger eine einzige Idee als eine Entwicklung oder Weiterentwicklung verschiedener Gedanken. Logisch würde ich sie nicht nennen. Irgendwann war es klar, doch es handelt sich da eher um einige intuitive Entscheidungen.
Die Handlungsstränge unterscheiden sich auch sprachlich, was bei Schriftstellern selten zu finden ist. Wie kommt das?
- G.: Drei Handlungsstränge, drei unterschiedliche Figuren, da ist es erforderlich, jedem seinen eigenen Ton zu geben. Ein 13-Jähriger spricht nun mal anders als ein 40-Jähriger. Mir macht jedesmal wieder die Herausforderung Spaß, mich in einen anderen Duktus hineinzuschreiben.
Im Handlungsstrang aus dem Leben des Schriftstellers im Roman kommen – neben vielen anderen Protagonisten – drei Nebenfiguren vor, die in der Zusammenfassung/Buchumschlag hervorgehoben werden: ein bekannter Anwalt, eine Mörderin und ein WingTsun-Großmeister, die es auch alle in der Realität gibt: Was fasziniert Sie an diesen drei Menschen?
- G.: Der Anwalt ist mein bester Freund, der Wing-Tsun-Großmeister ist mein SiGung, also der Lehrer meines Lehrers, und außerdem ein Freund, falls ich mich als seinen bezeichnen darf, und zudem in dem, was er tut, der Beste der Welt. Mich faszinieren Menschen, die in ihrem Fach weitergekommen sind als alle anderen. Mich fasziniert Hingabe. Mich fasziniert Meisterschaft. Diese Figur passte hervorragend in das Buch. Was die Doppelmörderin betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich so eine Persönlichkeit nie zuvor und nie danach getroffen habe. Vermutlich auch besser so. Estibaliz Carranza ist für mich die totale Finsternis. Ich mag sie trotzdem. Natürlich ohne Sympathie für ihre Taten zu hegen.
Großmeister Keith R. Kernspecht, in drei Sätzen für unsere Leser zusammengefasst: Was genau ist WingTsun?
Keith R. Kernspecht: WingTsun (WT) ist eine raffinierte von einer chinesischen Kampfnonne und ihrer Schülerin (Wing
Tsung) vor circa 300 Jahren entwickelte Methode, um unbewaffnete und bewaffnete Angreifer mühelos zu besiegen. Ich habe WT 1970 nach Europa gebracht, und mein Verband, die EWTO, unterrichtet WT an über Tausend privaten WT-Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Was haben Sie gedacht, als Sie gehört haben, dass Sie in einem Roman vorkommen sollen?
- R. K.: Es war schon immer mein Wunsch, einmal Unsterblichkeit zu erlangen. Der Gedanke an den Nachruhm– gepaart mit bodenloser Neugier– konnte mich immer wieder motivieren, die Gesetze des Kämpfens zu erforschen. Mein KungFu-Schüler und Freund Thomas Glavinic hat mir nun mit seinem „Jonas-Komplex“ ante mortem dazu verholfen, sodass ich jetzt eigentlich sorglos in Rente gehen kann.
Was fasziniert Sie am WingTsun?
- G.: Alles. Vor allem, dass sogar ich dadurch verteidigungsfähig geworden bin – ein fauler, eingerosteter Mensch. Mein Sifu Matthias Gold in Wien leistet da tolle Arbeit. WingTsun ist schlicht und einfach schön. Und hocheffektiv.
„Der Jonas-Komplex“ ist Ihr viertes Buch, in denen ein Jonas und eine Marie vorkommen – da passt der Titel in zweifacher Hinsicht. Warum heißen die Protagonisten in Ihren Büchern immer wieder Jonas beziehungsweise Marie?
- G.: Weil es dieselben Charaktere sind, wenngleich mit unterschiedlichen Biografien und Lebenslinien. Diese zwei Figuren sind mir näher als die meisten realen Menschen.
Jonas steigt auf den Mount Everest, wandert zum Südpol, lässt sich auf der Welt von seinem Anwalt Tanaka verstecken: Wie weit muss man gehen, um zu sich selbst zu finden – und anderen zu vertrauen?
- G.: Keine Ahnung! Verallgemeinern lässt sich das nicht. Da hat jeder seine eigenen Vorstellungen. Und „zu sich selbst finden“ ist ein Begriff, den ich so nicht verwenden würde. Eigentlich sagt er nicht viel aus. Ich bin ja viele. Die kann ich nicht alle finden.
- R. K.: Zum Südpol muss ich dafür nicht gehen, am besten finde ich in meiner Badewanne zu mir. Nun gehe ich den Weg des Chan (Zen) und vertraue meinem chinesischen Mentor, dessen Gegenwart meine Zukunft ist.
Viele Leser sehen in dem alkohol- und drogenabhängigen Wiener Schriftsteller, Ihrer Romanfigur, Sie, den Autor Thomas Glavinic – und machen sich entsprechend Sorgen um Ihre Gesundheit: „Wenn er so weitermacht, wird es kein weiteres Buch mehr geben“, so ein Facebook-Kommentar. Amüsiert Sie das, macht Sie das nachdenklich?
- G.: Nachdenklich nur insofern, als ich mich wundere, wenn Literaturkritiker nicht zwischen Ich-Erzähler und Autor unterscheiden können. Außerdem: Der Schriftsteller in meinem Buch heißt nicht Thomas Glavinic. Er hat keinen Namen (im Buch). Wie mein reales Leben aussieht, weiß ja nur ich selbst. Sorgen mache ich mir meistens eher um andere, nicht um mich.
Thomas Glavinic stellt klar, dass „Der Jonas-Komplex“ ein Roman ist und die Protagonisten nicht der Realität entsprechen. Inwieweit erkennen Sie sich im Protagonisten Keith R. Kernspecht wieder – sind Sie das auch nicht?
- R. K.: Der Typ hat schon gewisse Züge von mir.
In „Der Jonas-Komplex“ – und auch in „Das größere Wunder“ – geht es unter anderem darum, die eigenen Grenzen zu verschieben, zu überwinden, seine Ziele zu erreichen, Träume zu verwirklichen: Wenn man wolle, könne man alles schaffen. Inwieweit schaffen Sie es, Grenzen zu verschieben, und was motiviert Sie?
- G.: Nein, man kann nicht alles schaffen, nur weil man will, das ist ein Klischee. Fliegen werde ich nun mal nicht können und russischer Präsident auch nicht werden. Da hilft kein Wollen. Aber meine eigenen Grenzen zu verschieben, hilft mir, Ängste zu überwinden. Ich mag es, zurückzuschauen und meine Entwicklung zu sehen, das holt mich in der Rückschau oft aus Depressionen, wenn ich meine, schlechte Romane zu schreiben oder als Mensch noch furchtbar fehlerbehaftet zu sein. Man muss sich selbst auch mal loben. Und loben können.
Grenzen verschieben und überwinden hat mit Mut und auch mit Flexibilität zu tun: Inwieweit ist die Bereitschaft zur Veränderung im WingTsun relevant?
- R. K.: WingTsun (WT), so wie ich es unterrichte, basiert auf der bewussten und gleichzeitigen Veränderung mit der Veränderung des Gegners, um den Status quo, also die innere und äußere Balance und Harmonie, zu bewahren. Zur Veränderung, die es ermöglicht, das alles bleiben kann, wie es ist, braucht der WT-Kämpfer oder die WT-Kämpferin Flexibilität, geistige und auch körperliche.
In Ihrem Buch über Inneres WingTsun heißt es, dass man sich von keiner Situation beeindrucken lassen solle. Gibt es nicht doch etwas, was Sie beeindruckt?
- R. K.: Wenn jemand sich nicht bemüht, mich beeindrucken zu wollen, dann könnte mich das schon beeindrucken.
Das Interview führte
Anja Frauböse.
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Buchtipp
Von einem Milliardär, einem Jungen und einem Schriftsteller
„Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen. Als ich aufwache, geht es mir so elend, dass ich mit keinem der drei was zu tun haben will. Ich bin zu Hause. Im Fernseher läuft das Neujahrskonzert. Ohne Ton. An der Wand hat sich jemand Notizen gemacht. Überall im Zimmer liegt Geschenkpapier. Neben mir liegt eine Frau. Ich kenne sie. Sie heißt Ina. Ich frage mich bloß, was sie da macht. Immerhin hebt und senkt sich ihr Brustkorb.“
Ein Buch, drei Geschichten. Alle beginnen am 1. Januar.
Ein Wiener Schriftsteller, der Alkohol- und Drogenprobleme hat, lebt sich durch sein Leben und trifft illustre Gestalten: unter ihnen ein bekannter Anwalt, eine Mörderin und ein WingTsun-Großmeister. Seine innigsten Momente sind die, die er mit seinem kleinen Sohn verbringt. Ein 13-jähriger Junge lebt bei einer Bekannten in der Steiermark. Sie besticht durch einen unsoliden Lebenswandel, der Junge findet sein Glück im Schachspiel.
Und dann ist da Jonas, ein Milliardär, der sich von seinem japanischen Anwalt auf der Welt verstecken lässt, um zu sich selbst zu finden. Jonas kennen Glavinic’ Leser bereits aus „Das größere Wunder“. Der schachspielende Junge ist der Schriftsteller.
Die drei Handlungsstränge unterscheiden sich inhaltlich wie sprachlich: Laut lachend liest der Leser über Dates und Drogenkonsum eines über die Stränge schlagenden Schriftstellers, leise wird es, wenn der Junge allein zu Hause ist und mit Schach seine Einsamkeit überspielt. Jonas’ Dialoge mit seinem verstorbenen Freund Werner berühren genauso wie sein Monolog über eine Zimmerdecke. Auch wenn sich die Handlungen nicht vermischen, gibt es Gemeinsamkeiten: das besondere Verhältnis zu Zahlen, das die Protagonisten haben, der Glaube an Gespenster, die Einsamkeit, das Zögern beim Eingehen von Risiken. Der Jonas-Komplex ist in der Psychologie die Angst, Grenzen zu überschreiten, sich etwas zuzutrauen und zu vertrauen, und zwar sich selbst.
Wer Thomas Glavinic gelesen hat, kann sich auf ein weiteres großartiges Buch freuen. Wer Thomas Glavinic noch nicht gelesen hat, sollte spätestens jetzt damit beginnen. AF
„Der Jonas-Komplex“ von Thomas Glavinic | S. Fischer-Verlag | im März 2016 erschienen | 748 Seiten | gebunden | 24,99 Euro
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