Trau! Schau! Wem?
„Ich frage mich, ob dem Erfinder von World of Warcraft klar ist, dass er ein Übungsgelände für Soziopathen erschaffen hat.
Die Gamer, mit denen ich online spiele, nennen sich Killer-Cobra, SwordofDeath und Slice&Dice, doch ich wette, sie sind noch in der Mittelstufe. (…) Der Name meines Charakters lautet WorthyAdversary – würdiger Gegner.
Im echten Leben spiele ich jeden Tag eine Rolle, daher bin ich ein ziemlich guter Gamer.
Ich bin immer einen Schritt voraus, vielleicht auch zwei.
Ich plane alles. Ich setze alles in Bewegung, und wenn der Augenblick gekommen ist, schlage ich zu.
Am Ende gewinne immer ich.
Niemand sieht mich kommen.
Weißt du, warum?
Weil ich bereits da bin.“
Eric Parrish ist Psychiater und Chef der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses in Philadelphia. Vor kurzem hat sich seine Frau von ihm getrennt, seine geliebte Tochter Hannah sieht er nur noch unter erschwerten Umständen. Seine Ex, eine Staatsanwältin, hat ohne sein Wissen ihr gemeines Haus verkauft und einen neuen Lebensgefährten gefunden.
Auch im Krankenhaus gibt es Probleme: Parrish übernimmt den siebzehnjährigen Max als Privatpatient, dessen Großmutter im Sterben liegt. Max gesteht ihm, dass er in ein Mädchen verliebt ist, das er stalkt und ihr gegenüber – in seiner Phantasie – gewalttätig wird. Wenig später wird das Mädchen ermordet aufgefunden – und Parrish ist der Letzte, der sie lebend gesehen hat.
Als ob das noch nicht genug Probleme sind, wird er von einer Medizinstudentin verfolgt, die ihn ihrerseits wegen sexueller Belästigung anzeigt.
Die Lage spitzt sich zu – nicht nur für die Polizei ist Parrish einer der Hauptverdächtigen neben dem labilen Max für den Mord. Er, der das Sorgerecht seiner kleinen Tochter beantragt hat, soll auch die Studentin belästigt haben? Parrish ahnt – jemand hat es auf ihn abgesehen.
Bei diesem Thriller leidet der Leser mit: der sympathische Dr. Parrish gerät von einer Misere in die Nächste und weiß gar nicht, wie es ihm geschieht: er verteidigt mit Händen und Füssen die Schweigepflicht, sorgt sich um seine Patienten, zu denen man ihm den Zutritt verwehrt, und geht eher ins Gefängnis, als jemanden ans Messer zu liefern. Manchmal möchte man ihn gern schütteln, ihn, den Gutmenschen, dem jemand etwas Böses will. Bis zum Ende ist Miträtseln angesagt, was Motiv und Täter angeht.
Lisa Scotoline „Niemand sieht mich kommen“, erschienen im Juni 2016 bei retten & loening, 414 Seiten, Euro 14,99