„Unser Lebensstil kommt in die Krise“
Leuchtend rote Tomaten, saftige grüne Gurken und knackig gelbe Paprika prasseln in einen großen Müllcontainer. Die Gemüseflut wird von einem Beamer überdimensional an die Wand geworfen und will gar kein Ende nehmen. Erste entsetze Blicke im Publikum, ein Mann notiert sich kopfschüttelnd die Zahlen: 45 Kilo Lebensmittel vernichtet ein durchschnittlicher Supermarkt pro Tag. In einer mit-teleuropäischen Durchschnittsfamilie werden jährlich 100 Kilo Essbares weggeworfen. Der Film des Evangelischen Entwicklungsdienstes zeigt den globalen Zusammenhang zwischen der Nahrungsmit-telverschwendung der Reichen und den Hungerunruhen der Armen.
Vergangene Woche veröffentliche nun Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) eine Studie zum Um-gang der Deutschen mit ihren Lebensmitteln – mit vergleichbaren Ergebnissen. „Natürlich war uns bei der Planung der Veranstaltung nicht klar, dass uns Frau Aigner extra eine Studie liefern würde“, begrüßte Pastorin Antje Heider-Rottwilm von der Brücke – Ökumenisches Forum HafenCity am Mon-tagabend ihre Gäste auf dem Podium und im Publikum im Weltcafé Kleine ElbFaire. „Die weltweite Wirtschaftskrise oder die soziale Spaltung in Deutschland sind von unserem Umgang mit den Nah-rungsmitteln nicht zu trennen.“
Im Laufe der engagierten Diskussion wurde schnell das Interessengeflecht von Verbrauchern, Einzel-handel und Industrie deutlich. Ein einzelner Supermarkt kann den Lebensmittelabfall kaum reduzie-ren: „Wir versuchen uns auf die Bedürfnisse der Konsumenten einzustellen und die erwarten bis kurz vor Ladenschluss volle Regale.“ Christian Barg konnte als zweiter Inhaber des HafenCity-Edekas die verärgerten Kunden sogar verstehen: „Das eigentliche Problem sind doch die langen Öffnungszei-ten.“ Während die Einzelhändler besonders in Deutschland fürchten müssen, unzufriedene Kunden an die billige Discounter-Konkurrenz zu verlieren, versucht die Lebensmittelindustrie mit einer gro-ßen Produktpalette überregional erfolgreich zu sein. Da scheint es, als hätten die Verbraucher den größten Einfluss: „Wir müssen uns wieder bewusst machen, wie viel Macht wir Kunden durch unsere Kaufentscheidungen haben“, forderte eine engagierte Frau aus dem Publikum.
Ulrich Ketelhodt prägte schließlich den Satz des Abends: „Unser Lebensstil kommt in die Krise.“ Das Publikum nickte zustimmend. Sofort wurden angeregt die eigenen Erfahrungen ausgetauscht und die Probleme benannt: Berufstätige haben oft keine Zeit zum Kochen, die Essgewohnheiten der Familien verändern sich, Kinder verlieren durch Fertiggerichte die Beziehung zu den Nahrungsmitteln. Tat-sächlich unterscheidet der Umgang mit den Lebensmitteln die Generationen. Die neue Studie des Verbraucherministeriums zeigt, je jünger die Verbraucher sind, desto mehr Essen landet im Müllei-mer. Publikum und Podium sind sich einig: Die deutsche Esskultur hat einen Bewusstseinswandel nötig.
Der Abend in der Kleinen ElbFaire war zumindest ein Anfang. Eine knappe halbe Stunde länger als geplant diskutierte das engagierte Publikum mit den beiden Podiumsgästen und stand im Anschluss noch bei einem bio-fairen Imbiss in kleinen Gruppen zusammen. Die eindringlichen Schlussworte von Antje Heider-Rottwilm hallten in den Gesprächen nach: „Im Vater Unser beten wir: ‚Unser täglich Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld.‘ Diese beiden Zeilen gehören für mich eng zusam-men. Der Hunger in der Welt ist auch unsere Schuld, weil wir nicht konsequent genug handeln.“
Sophie Hufnagel