„Von Aufständen und Affären und dem wahren Gott in Frankreich“
Buchtipp: „Der wunderbare Friseur“ von Marcel Aymé
Frankreich, 1936. Das plötzliche Ableben des Fabrikbesitzers Monsieur Lasquin deckt das wahre Leben hinter der vermeintlich geordneten Welt der großbürgerlichen Familie auf:
Die Witwe genießt es, Kondolenzschreiben zu beantworten. Auch das Erhalten eines anonymen Schreibens, das auf eine Geliebte ihres verstorbenen Mannes hinweist, erfreut sie; sie verspricht sich weitere Aufmerksamkeit. Endlich ist auch ihr Leben nicht mehr langweilig.
Der Schwiegersohn, der nun die Fabrikleitung übernehmen soll, möchte lieber als Leichtathlet berühmt werden. Seine Gattin, mit der er gerade von der Hochzeitsreise kommt, geht eine Liaison mit dessen bestem Freund ein, mit dem sie allmorgendlich Tennis spielt.
Der Bruder der Witwe übernimmt die Geliebte und das dafür angemietete Appartement des Verstorbenen, obwohl er auch deren Mann kennt – ein Kamerad aus früheren Kriegstagen.
Dazu gesellen sich noch drei Schwestern und die verrückten Eltern von Bernard, ein bekannter- und ein Möchtegern-Schriftsteller, der sich von einem älterem Gönner aushalten lässt. Das Chaos wäre perfekt, wenn nicht ausgerechnet ein kleiner Friseur die Fäden sämtlicher Geschehen und die Macht über Frankreich in der Hand hätte. Bei diesem Friseur, der ganz unscheinbar in seiner Frisierstube mit seinem Gehilfen arbeitet, treffen sich alle, die Rat und Entscheidungen brauchen. Großindustrielle, die Streiks und Demonstrationen verhindern wollen, Schriftsteller, die Auszeichnungen benötigen und Minister, die das Land nicht im Chaos untergehen lassen wollen, geben sich hier die Klinke in die Hand – und lassen sich, neben dem Stutzen des Bartes, vom mächtigsten Mann der Nation beraten.
Obwohl der Buchtitel „Der wunderbare Friseur“ der Hauptperson im Hintergrund gewidmet ist, tritt dieser im gesamten Buch nur dreimal konkret in Erscheinung: alle 100 Seiten findet man ihn in seinem Salon an, ein bescheidener Mann, der sich aber sehr wohl seiner Macht bewusst ist. Er kann als Symbol gesehen werden, dass die Wichtigen ohne den kleinen Mann gar nicht so wichtig wären – oder auch als groteskes Symbol, das alles in Frankreich aus dem Ruder läuft, keiner trägt Verantwortung, schalten und walten tut nur noch ein Friseur.
„Der wunderbare Friseur“ wurde 1941 unter dem Titel „Travelingue“ bei den Éditions Gallimard, Paris, veröffentlicht. Dies ist die erste Veröffentlichung in deutscher Sprache.
Aymé demaskiert die Großbürger und Bohemiens, die Wichtigtuer und Pseudointellektuellen. Er tut dies mit einem wunderbar schwarzen Humor. Die Auftritte der Protagonisten finden in unterschiedlichen Milieus statt, wie in einem Theaterstück treten die „Schauspieler“ in den verschiedenen Akten auf.
Ein sehr unterhaltsames Buch, das die bedrohliche Lage Frankreichs im Jahr 1936 als unwichtiges Übel abtut und sich die Protagonisten böse Wortgefechte liefern. „Der wunderbare Friseur ist am 12. April 2013 im aufbau Verlag erschienen. 22,99 Euro gebundene Ausgabe