Von Hasen im Hafen und moderner Architektur
… und was die Vögel davon haben
Hinter uns lagen dauerfrostige Nächte, da bemerkte ich eine steigende Zahl toter Vögel und einige, die schon arg angefressen, aber noch lebend in weiten Kreisen um das Fleetschlösschen verteilt niedergegangen waren. Meine Verwunderung über diese lokale Häufung tierischer Sterbefälle wich der Vermutung, dass dies an der Ruhe lag, die diesen Ort umgab. Ein Phänomen bekannt aus der Geschichte der Elefantenfriedhöfe, die der greise Elefant aufsucht, wenn er fühlt, dass es dem Ende zugeht. Die Speicherstadt lag tief im Dornröschenschlaf, so zwischen 15 und 7 Uhr in der Frühe; am Wochenende verirrte sich ohnehin höchstens ein Fuchs aus der Lüneburger Heide einmal hierher. Wenn es dem Ende zugeht, wollen wohl auch die Vögel ihre Ruhe haben – Tauben, Möwen, Amseln, einen Falken sogar und eine Dole habe ich „entsorgt“, bevor die Ratten sich darüber hermachen konnten. An denen mangelte es auch nicht. Manche Vögel blieben wohl bis zu drei Tage an Ort und Stelle liegen, bevor ich sie morgens verscharrt habe – nicht so schlimm, hier war ja schließlich im Mittelalter ein Friedhof.
Das war vor acht Jahren, heute ist von Vögeln in unserem Viertel nicht mehr viel zu sehen, zu hören schon gar nicht. Im frühen Morgengrauen, wenn wir am Wochenende das Fleetschlösschen nach einer Feier absperren, sieht man Menschen herumlaufen, fahren Autos, Taxis, Laster hin und her, Ampeln blinken und stoßen ihre peitschenden Warntöne aus. Die im ehemaligen Zollgebiet Speicherstadt wild erwachsene Natur ist neuen Straßen, Brücken und Hochhäusern gewichen; in deren polierten Fassaden spiegeln sich derart naturgetreu die Topfpflanzen (Topfbäume) der HafenCity, dass die Mitarbeiter der umliegenden Zentralen täglich bei Ihren Rundgängen sogenannte Fehlflieger einsammeln müssen. Fehlflieger steuern nicht den Baum direkt an, sondern das Spiegelbild desselben im Schaufenster … Die meisten Flieger sind irgendwann einmal Fehlflieger. Das Revier ist wahrlich kein Paradies mehr für schräge Vögel, und so wundert es uns auch nicht, dass man Paradiesvogel Udo Lindenberg nur noch selten in „seinem Revier“ spazieren gehen sieht.
Der Grünflächenanteil in der Speicherstadt wird wohl ab März den Tiefpunkt bei Bestand null erreicht haben, also vollkommen arrangierten Pflastersteinensembles und Stadtmöbeln aus chinesischem Granit gewichen sein. Selbst die Ratten werden dann nur noch sehr vereinzelt aus dem Fleet hochsteigen; der Bisam ist ja auch schon lange verschwunden. Für viele Menschen bedeutet dies vordergründig einen Segen. Und Büroangestellte springen nicht mehr wild schreiend auf besagte Stadtmöbel. Die Kehrseite der Medaille bilden dann die Brückenspinnen, die sich ohne jeden natürlichen fliegenden Feind derart ausbreiten, dass Bewohner schon entnervt einen Umzug „in die Stadt“ in Erwägung ziehen. Nun ja, der Hafen war ja auch nie wirklich ein Quartier für die bourgeoise Dame oder solche, die das darstellen wollen. Die Freude war groß, als ein Drogeriemarkt im Überseequartier eröffnete und frau nicht mehr das Haarspray zweckentfremden musste, um die kleinen Arachnoiden von Balkon oder Fenstersims zu sprühen.
Kalte Nächte und monatelanger Baustellenlärm konnten unserem besten tierischen Freund „Oberhafenhasi“ nichts anhaben. Gegen Ende 2005 zog er, den Bauarbeiten in seinem angestammten Gebiet weichend, mit seiner fünfköpfigen Familie zu uns und legte sich eine Höhle im Grünstreifen vor dem Schlösschen an, der unseren Teil des Kreuzungsbereiches zu einer grünen Oase machte. Es dauerte eine Weile, bis mir die Hasenfamilie den den Gästen von nun an vorzuenthaltenden Salat aus der Hand fraß. Als aber das Eis gebrochen war, vertrauten sie ausnahmslos jedem, der ihnen ein Leckerli anbot. Das führte leider auch dazu, dass wir sie nahezu täglich aus den Klauen sogenannter „Tierretter“ befreien mussten. So mancher erinnert sich noch: Wir haben die Fußballweltmeisterschaft 2006 gemeinsam auf der Wiese vorm Fleetschlösschen geschaut – Vater Hasi hatte einen Stammplatz in der ersten Reihe. Seitdem erfreuten Generationen von Hasenkindern unsere Gemüter und verschlangen Salatkopf und Kopfsalat, aber auch beutelweise Möhren. In der Nacht, bevor die Bäume vor dem Fleetschlösschen gefällt wurden, hat Hasi dann wohl seine Koffer gepackt, die Kinder aus der Höhle gejagt und ist mit seiner Frau weggezogen. Mobil bleiben, heißt, am Leben bleiben.
Man sagt so oft, Architekten verstünden keinen Spaß. Doch, sie sind der Spaß. Und Stadtplanung ist ein ganz anderes Fach.