Was kostet der Schutz des Kindeswohls?
Jugendamt Hamburg Mitte
Zwei Zehnjährige überfallen 88-Jährige, Mädchen (11) stirbt durch Methadon, verschwundener Elfjähriger ist wieder da, junges Mädchen soll zwangsverheiratet werden. Für die Presse sind es Schlagzeilen, für die Betroffenen sind es Tragödien, für die Mitarbeiter des Jugendamtes Hamburg-Mitte geht es um die Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages, denn „jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Fast jedes zweite Kind, das in Hamburg in einem sozial benachteiligten Gebiet wohnt, lebt im Bereich des Jugendamtes Hamburg-Mitte.
Rund 100 Mitarbeiter arbeiten im Jugendamt Hamburg Mitte im Bereich des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD). Sie sind zuständig für die Hilfen zur Erziehung. Wenn alles gutgeht, betreut ein Sachbearbeiter 50 bis 80 Fälle, wenn es nicht so gut läuft – zum Beispiel weil ein Kollege gegangen ist oder der Nachfolger eingearbeitet wird – können es schon mal bis zu 120 Fälle sein. Kein seltener Fall. Im Bereich Wilhelmsburg, wo aufgrund von Fluktuation lange Planstellen unbesetzt waren, werden derzeit neue Kollegen eingearbeitet. Es dauert dann schon sechs Monate bevor diese selbstständig eigene Fälle übernehmen können. Für die anspruchsvolle Aufgabe sind ein Studium als Sozialarbeiter mit einem Bachelorabschluss oder gleichwertige langjährige Erfahrungen und Kenntnisse Voraussetzung. Zusätzliche rechtliche Kenntnisse, Erfahrungen in der Gesprächsführung und Computerkenntnisse werden ebenfalls gefordert. Neben den angelernten Fähigkeiten dürften ein erhebliches Maß an Einfühlungsvermögen sowie Lebens- und Berufserfahrung und eine hohe Frustrationsgrenze hilfreich sein, denn die Mitarbeiter des ASD werden immer dann tätig, wenn in der Familie etwas schiefläuft. Im besten Fall wenden sich die Eltern an das Jugendamt und bitten um Unterstützung bei der Erziehung ihres Kindes. Gespräche mit den Eltern und dem Kind folgen, denn vor jeder Unterstützungsmaßnahme geht die Falldiagnose voraus. Sind Drogen im Spiel oder lebt das Kind sein pubertäres Verhalten aus? Gibt es grundsätzliche Probleme in der Familie, oder wo liegen sonst die Ursachen? Wie das Kind oder der Jugendliche sich in seiner häuslichen Umgebung verhält, wird im Rahmen von Hausbesuchen geprüft. In anderen Fällen erhält das Jugendamt Hinweise von Dritten, sei es von der Schule, Ärzten, Nachbarn oder Angehörigen. Auch hier geht es nicht ohne das Gespräch mit den Eltern, denn diese sind – ob sie es können oder nicht – gesetzlich erziehungsberechtigt.
Wie soll zum Beispiel der Fall von zwei Zwölfjährigen bewertet werden, die in der Silvesternacht in der S-Bahn stark betrunken aufgegriffen werden? Über alle Diagnosen steht die entscheidende Frage: Ist das Kindeswohl gefährdet? Eine Entscheidung, die ein Fallverantwortlicher nicht allein trifft. Hierfür gilt immer das Vier-Augen-Prinzip. In den meisten Fällen können bereits einfache Unterstützungsmaßnahmen Kindern und Eltern helfen. Niedrigschwellige Projekte im Rahmen der „sozialräumlichen Hilfen und Angebote“ (SHA) wie zum Beispiel der Erfahrungsaustausch von Eltern im Gespräch mit anderen Betroffenen oder ein Kochkursus für junge Mütter, die diese in die Lage versetzen, ihren Kindern gesunde und regelmäßige Mahlzeiten zuzubereiten, sollen häufig schon im Vorweg zu einer Stabilisierung der Familie führen. Dass Maßnahmen, die Eltern stärken, wie die Angebote der Inselmütter in Wilhelmsburg, die junge Mütter bei der Bewältigung des Haushalts unterstützen oder diese bei den Gängen zu Ämtern begleiten, den Kindern helfen, davon sind die Fachleute überzeugt, und so sind diese Angebote häufig Teil des Hilfeplans, der von Amt und Eltern gemeinsam erstellt wird. In vielen Fällen sind aber Hilfen zur Erziehung – für die das Jugendamt Hamburg-Mitte mit 50 freien Trägern kooperiert – unerlässlich. Niedrigschwellige Angebote für akut überforderte Eltern reichen dann nicht mehr aus. Eine häufige Präsenz von Betreuungshelfern und eine sozialpädagogische Unterstützung in der Wohnung der Familie oder stationäre Aufenthalte können dann erforderlich sein. Stellen die Betreuer fest, dass das Kindeswohl akut gefährdet ist, werden die Kinder einvernehmlich oder gegen den Willen der Eltern aus der Familie genommen. Ein sehr komplexer Rechtsakt, bei dem das Grundgesetz bestimmt, dass „gegen den Willen der Erziehungsberechtigten Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden dürfen, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“. Die sogenannte Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern muss vom Familiengericht bestätigt werden. Das ambivalente Verhalten von Kindern und Jugendlichen, die ihre Eltern selbst dann lieben, wenn diese sich nicht richtig oder ausreichend um sie kümmern, und daher Aussagen zugunsten der Eltern machen, auch wenn sie misshandelt werden, macht es den Helfern in vielen Fällen nicht leicht, die Kinder aus den verwahrlosten Verhältnissen herauszuholen. Eine besondere Herausforderung für die Fallverantwortlichen, denn sie Handeln in Unsicherheit und treffen prognostische Entscheidungen, bei denen rückblickend betrachtet vielleicht eine andere Vorgehensweise empfehlenswert erscheint. Konfliktsituationen sind Teil der Arbeit des Jugendamtes. Viele Konflikte wurden in den letzten Jahren – ausgelöst durch den tragischen Tod von Lara Mia, deren Eltern sie verhungern ließen und dafür verurteilt wurden, und durch den Tod von Chantal, die durch Methadon starb, das sie in der Wohnung ihrer Pflegeeltern fand – politisch und medial verfolgt.
Die schwierigen Untersuchungen der Fälle (die Kinder waren in staatlicher Obhut beziehungsweise in der Betreuung des Jugendamtes und freier Träger) ergaben zum Teil große strukturelle Defizite in der Hamburger Jugendhilfe, machten erhebliche Fehleinschätzungen von Betreuern offensichtlich und führten nicht nur zum Rücktritt des politisch verantwortlichen Bezirksamtsleiters und zur Versetzung der Amtsleiterin, sondern auch zu grundsätzlichen Änderungen in der Hamburger Jugendhilfe wie einer verschärften Überprüfung von Pflegefamilien. Die öffentliche Darstellung weiterer, aber anders gelagerter Fälle wie zum Beispiel der Fall Jeremie, bei dem die Strafverfolgungsbehörden prüfen, ob sich hier nicht jemand der Kindesentziehung strafbar gemacht hat, verschärfen indes die Arbeitssituation des Jugendamtes Hamburg-Mitte, das – unter dem Generalverdacht von Fehlentscheidungen – oft eine öffentliche Klarstellung aufgrund datenschutzrechtlicher Aspekte und zum Schutz von betroffenen Kindern nicht betreiben will und kann. Ob nun die Tatsache, dass immer wieder Fälle von Meinungsverschiedenheiten zwischen den „Klienten“ und dem Jugendamt Hamburg-Mitte in der Presse auftauchen, darauf zurückzuführen ist, dass die Betroffenen sich damit „eine bessere Verhandlungsposition“ gegenüber dem Amt verschaffen wollen oder dass es in der Behörde an einem strukturierten Beschwerdemanagement fehlt, das im Vorfeld strittige Entscheidungen als Ergänzung zur täglichen Fallbearbeitung aus dem Blickwinkel eines Qualitätsmanagements überprüfen lässt, sollte von den Verantwortlichen überdacht werden. (CF)
Fachamt Jugend- und Familienhilfe (Jugendamt)
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