WILLKOMMEN IN DER PARALLELWELT

Auf zum nächsten Ziel Foto: Simone Rundeshagen
Auf zum nächsten Ziel Foto: Simone Rundeshagen

Eselwandern in Irlands Westen

Tag 1
Es wird dunkel. Durch die Blätter der dicht stehenden Bäume fällt der Regen auf den matschigen Waldboden; sonst ist es still. Einen Weg gibt es nicht, nur drei kaum erkennbare Pfade, die in unterschiedliche Richtungen gehen. Willkommen im Kylebrack Forest, willkommen in den Slieve Augthy Mountains! Meine Stimmung ist bereits bei der heutigen Probewanderung mit dem Eselmädchen Gina auf dem Tiefpunkt: Wir haben uns verirrt. Während der 8-jährige Julian laut überlegt, ob wir es wohl rechtzeitig zum Abendessen auf den Eselhof schaffen, sehe ich vor meinem inneren Auge eine Übernachtung im Wald anstehen. Da wir nicht wissen, wo es weitergeht, lassen wir Gina entscheiden, welchen Pfad wir nehmen. Eine gute Idee, denn auch Gina will nach Hause – und auf ihren Instinkt ist Verlass. Sie findet sogar eine Abkürzung. Wir landen vor dem Gatter einer Weide, die bergab in die Nähe des Hofes führt. Dank Gina gibt es doch noch ein leckeres Abendbrot mit Zutaten aus hofeigenem Anbau von Esther, der Holländerin.

Die Weisheit des Tages kommt vom kleinen Julian: Warum wird bei Zutaten von Rezepten nie „Liebe“ aufgeführt? Alle Gerichte sollten doch schließlich mit Liebe zubereitet werden.

Tag 2
Heute wird es ernst – unsere Wanderung vom Eselhof zum Cartron House steht an, wo wir übernachten werden. Gina hat gestern zwar den Angriff eines Jagdhundes im Wald stoisch abgewehrt und uns sicher nach Hause gebracht, da sie aber auf steinigem Gelände lahmt, tauschen wir sie gegen den gescheckten und gutgelaunten John-Willie ein. John-Willie ist dann auch doppelt so schnell unterwegs, nachdem wir unser bereits auf die Hälfte reduziertes Gepäck noch einmal auf Rat des Stallburschen verringern. Badelatschen und Bücher müssen zurückbleiben. Mit einer laminierten Landkarte, auf der unsere heutige Strecke markiert ist, marschieren wir wieder in den Wald hinein. Schon bei der ersten Biegung Unsicherheit: geradeaus oder links? Eine Gruppe von Reitern rät uns, ihnen zur ersten Abbiegung zu folgen und dann den anderen Weg zu nehmen. Dieser endet – mal wieder – vor einem geschlossenen Gatter. Sind wir hier richtig? Und überhaupt: warum gibt es nirgendwo Wegweiser? Noch ahnen wir nicht, dass wir die nächsten Tage ohne Wegweiser, Orts- bzw. Straßennamen oder Hausnummern zurechtkommen müssen. Wir öffnen das Gatter und folgen dem kleinen Weg, der sich durch den wieder einsetzenden Regen in ein Meer von Pfützen verwandelt. Ich gratuliere mir zu der Entscheidung, mir einen Tag vor der Abreise noch eine gute Regenjacke zugelegt zu haben. Das Picknick, das wir uns malerisch in der irischen Natur vorgestellt haben, nehmen wir an einem Schlagbaum ein, an den man sich wenigstens anlehnen kann, das Essen ausgebreitet auf einer mitgebrachten Mülltüte. Und wieder geht es weiter, Pfade, Wege und unbefahrene Straßen entlang. Erst nach drei Stunden treffen wir auf den ersten Menschen, eine Dame, die uns versichert, dass wir auf dem richtigen Weg zum Cartron House seien. Und auch ein alter Mann, den wir eine halbe Stunde später beim Holzsägen begegnen, lächelt freundlich und weist uns den Weg. Am späten Nachmittag treffen wir an unserem Ziel ein. John-Willie muss sich eine Weide mit drei Pferden teilen, wir teilen uns den Tisch mit einem irischen Geschäftsmann. Morgen wird Nia kommen, so unsere Gastgeberin, und uns den nächsten Teil der Route erklären. Wir üben uns in Gelassenheit – und Flexibilität.

Unsicherheit des Tages: Wie schon auf Esthers Eselhof gibt es auch hier keinen Fön im Bad. „Bad Hair Day“ wird zur „Bad Hair Week“.

Verloren im Kylebrack Forest
Verloren im Kylebrack Forest

Tag 3
„Nia kommt“, rufe ich, als ein Auto vorm Cartron House zum stehen kommt und eine Frau mit blondem Pferdeschwanz herausspringt. In der Nacht habe ich festgestellt, dass ich zwei dicke Blasen direkt unter dem Fuß habe und hoffe, dass Nia mich vielleicht – ausnahmsweise – mit zu sich nimmt und ich nicht mit John-Willie stundenlang durch die Wildnis wandern muss. Nia hat sich vor einigen Jahren dazu entschlossen, die Farm ihrer Eltern zu übernehmen und bewirtschaftet diese ganz allein – mit ihr der Dalmatiner Chezz, drei Pferde, sechs Esel und Hühner, die auf den umliegenden Feldern und Wiesen verstreut sind. Zum „Centre“ könne sie mich bringen und dann ein paar Stunden später wieder abholen. Das klingt gut, ich sehe mich in Gedanken im Starbucks bei Latte und Kuchen sitzen und ein bisschen shoppen. Unverhofft lande ich allerdings im Esel-Centre bei Esther, die etwas überrascht ist, mich so schnell wiederzusehen. Ich mache mich auf einen 90-minütigen Spaziergang in den mir jetzt bestens bekannten Wald auf, um ihrem amüsierten Blick zu entgehen. Um 17 Uhr holt Nia mich und mein heimlich wieder eingestecktes Buch ab. Auf ihrer Farm, die abseits am Lough Attorick liegt, wohnen zur Zeit noch ein Katalane und zwei Franzosen, die dort ein Praktikum machen und uns heute festlich auf einem uralten Ofen bekochen – natürlich wieder mit Zutaten aus eigenem Anbau.

Fazit des Tages: Irland steht für gutes, gesundes und vielseitiges Essen – wer braucht schon Starbucks.

Tag 4
Ein freier Tag für John-Willie, denn wir bleiben eine weitere Nacht bei Nia am Lough Attorick. Den Vormittag verbringe ich mit meinem geschmuggelten Buch, mittags treffen wir uns zum Picknick am See, den wir ganz für uns allein haben.

Resümee des Tages: Schmuggelware ist überall (ein Buch, eine kleine Zahnpasta, ein extra Haarshampoo und Bodylotion – leider hat keiner einen Fön geschmuggelt).

Am Lough Derg Foto: Simone Rundeshagen
Am Lough Derg Foto: Simone Rundeshagen

Tag 5
Es gibt mehrere Optionen: Wir können bei Nia bleiben, zu Esther ins Centre wandern oder weiter in die Berge gehen, zum Lough Derg. Wir wählen Lough Derg. Während John-Willie und Simone noch eine Verlängerung durch den Wald nehmen, lasse ich mich mit Julian zu einem Treffpunkt fahren, von dem wir gemeinsam die nächsten Stunden und Kilometer zurücklegen. Es geht bergauf, bergab, die Sonne wechselt sich kontinuierlich mit starkem Regen ab, der Wald geht irgendwann in eine atemberaubende Heide-Landschaft über, durch die nur ein einziger Weg führt: Dieser Weg wird ein leichter sein! Wir passieren eine Brücke, auf der sich vor vielen Jahren die Engländer und Iren gegenüberstanden; heute stehen wir einer Kuhherde gegenüber. John-Willie gefällt das nicht, den Kühen noch weniger. Unruhe auf beiden Seiten, bevor sich die letzte Kuh an uns vorbeitraut und wieder zu ihrer Herde aufschließt. Heute sollen wir bei Leon und Anneliese übernachten, die in einem Haus mit rundem Dach wohnen. Wir fragen längst nicht mehr nach näheren Angaben wie Straßen oder vollständigen Namen. Um 18 Uhr taucht ein Haus auf, davor sitzen einige Menschen, die uns erwartungsvoll entgegenblicken: „Sucht Ihr eine Unterkunft für diese Nacht? Dann seid ihr genau richtig“, stellt sich Leon vor. „Und das Timing ist perfekt, wir wollen jetzt zu Abend essen.“ Der wettergegerbte Leon und die graulanghaarige Anneliese leben seit 18 Jahren in Irland und betreiben ein Meditationszentrum. Heute sind ihre beiden Söhne anwesend sowie einige Schüler aus England, Frankreich und Deutschland. Wir dürfen noch unsere Hände waschen, und schon sitzen wir in einem wunderschönen hohen Raum, deren Glasfront einen spektakulären Blick auf den Lough Derg freigibt. Der Tisch ist festlich gedeckt, im Hintergrund spielt klassische Musik. Eine Schweigeminute wird eingelegt, dann reichen wir uns alle die Hand und danken für das Essen, das – natürlich – aus eigenem Anbau stammt. Wir sind verschwitzt und verdreckt und fühlen uns mal wieder in eine Parallelwelt hineinkatapultiert. Nach dem Essen zeigt Anneliese uns unsere hellen Zimmer, den Meditationsraum mit Jesus, Buddha- und Hindu-Gottheiten und das riesige Badezimmer mit Balkon, Blick auf den Lough Derg – und ohne Fön.

„Morgen gehen wir dann den Weg runter, dann irgendwann links, ne ganze Strecke einfach weiter bis zu Tarzan“, flüstert Simone, um die Meditationsgruppe nicht zu stören – wir fangen an zu lachen. Das glaubt uns keiner. Tarzan heißt eigentlich Ed und ist so etwas wie eine „landmark“. Über 80 Jahre, schwarzes wildes Haar, wohnt Tarzan in einem chaotischen kleinen Häuschen inmitten seiner Tiere. Zwischen 70 und 200 Pferde hat er in den Bergen – wie viele genau weiß keiner.

Vorm Schlafengehen schaue ich nochmal zu John-Willie, der diesmal leider keine Weide hat, sondern an einem langen Seil im Garten an einem Baum festgebunden ist. Ich zwicke ihn oben in den Hals (Eselsprache!), er stupst mich an. Als ich gehe, will er mir folgen.

Einsicht des Tages: Der Weg ist zwar nicht das Ziel, aber Ziele sind auch intuitiv zu erreichen, auch ohne – wahrscheinlich typisch deutsche – präzise Hinweise.

Esel sind nicht stur
Esel sind nicht stur

Tag 6
Das Frühstück mit selbstgebackenem Brot und Eiern aus der hauseigenen Hühnerhaltung wird von portugiesischen Fado-Klängen untermalt. Danach geht’s weiter – Richtung Tarzan und Richtung Woodford – erstmals haben wir einen Ortsnamen mit auf den Weg bekommen. Nach einem kleinen Umweg (falsche Richtung) vermuten wir uns auf dem richtigen Weg. Wir haben uns daran gewöhnt, kaum Menschen zu treffen und orientieren uns an der Lage des Sees und dem East Clare Way, dem einzigen mit Namen benannten Wanderweg, den wir zum Teil entlang wandern. Als wir an einer Straße ankommen und nicht wissen, ob wir links oder rechts weiter müssen, taucht ein alter zahnloser Ire auf, beeindruckt, wie weit wir schon gewandert sind, und zeigt in die Richtung, in der Woodford liegen soll: Erst bei Tarzan vorbei, dann über die Berge und wenn sich der Weg gabelt, nach rechts. Tarzans Häuschen sieht verwahrlost aus, ihn selbst entdecken wir nicht. Aber seinen Pferden begegnen wir in den Bergen, die neugierig näherkommen, mit ihnen ein paar Esel, die John-Willie kennenlernen möchten. Der Himmel legt sich wolkenverhangen über die Berge. Noch eine kurze Pause am Wegesrand, dann geht’s weiter nach rechts, Richtung Woodford. Nach 20 Kilometern ein erlösender Anruf – Nia wird uns auf der Straße einsammeln und uns wieder zurück ins Centre bringen.

Fazit der Reise: Es gibt viele Parallelwelten, alle etwas eigen und speziell, aber in allen werden wir herzlich willkommen geheißen. Nur einen Fön – und hier wähnen wir uns in der Truman-Show – hat uns die Regie nicht gegönnt.