Zum dritten Advent
Das ist meine Weihnachtsgeschichte. Meine persönliche Weihnachtsgeschichte hat nichts mit der HafenCity zu tun, außer, dass ich hier lebe. Seit frühester Kindheit pflegt unsere Familie eine besondere Weihnachtstradition: Wir gehen am 25. Dezember in die Abendvorstellung des Hansa-Theaters. Das Hansa-Theater liegt am Steindamm; ein altes Variete-Theater, das nicht recht in seine verwahrloste Umgebung in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs passt. Das Hansa-Theater hat seine besten Zeiten hinter sich. Hier traten schon Hans Albers auf und Siegfried und Roy mit ihren Tigern. Und hier gehen wir jedes Jahr mit der Familie hin. Als Kind war dies ein größerer Ausflug – nebst Eltern und kleinem Bruder waren auch Tanten, Onkel, Cousins, Oma und sogar Uroma mit von der Partie. Übrig geblieben sind meine Eltern und ich. Die anderen Familienmitglieder sind gestorben oder wohnen jetzt in anderen Teilen der Welt.
Wir gehen stets durch den Hintereingang ins Theater, an der Garderobe und den wunderschönen antiken Toiletten vorbei, hinein in den Saal. Vorne im Saal und in den Logen stehen runde Tische – der hintere Bereich besteht aus kleinen Viererreihen mit plüschigen Sesseln, vor denen ein schmaler Tisch mit dekorativen Schmiedeelementen, einer kleinen Lampe und dem Schalter, mit dem man den Kellner rufen kann, angebracht ist. Früher bestellten wir uns immer den Theaterteller: der bestand aus kleinen Stücken Schwarzbrot mit Käse und Mettwurst, und als Deko gab es zwei Salzstangen. Noch Wochen nach unserem Besuch bekamen wir zuhause zum Abendbrot von unserer Mutter einen Theaterteller.
Einmal waren wir am 26. Dezember in der Vorstellung. Am 26. Dezember habe ich Geburtstag. „Hat heute jemand Geburtstag?“ fragt der Komiker auf der Bühne. Meine im ganzen Saal verstreute Familie dreht sich erwartungsvoll zu mir um. Mein Herz schlägt bis zum Hals – ich will nicht auf die Bühne. Also melde ich mich nicht. Eine andere Dame meldet sich – sie bekommt ein Geburtstagsständchen vorgetragen – Happy Birthday, rückwärts gesungen. Grad noch mal gut gegangen, auch wenn die Familie etwas enttäuscht über meine Nicht-Meldung ist. In der Pause stehen die Raucher vor der Tür und schauen auf den tristen Steindamm. Ich stehe vor dem Tannenbaum im Foyer, der jedes Jahr reich mit Lametta behängt und mit glänzenden silbernen Kugeln geschmückt ist. Das ist mein Lieblingsweihnachtsbaum. Mein erster eigener Weihnachtsbaum sah demzufolge aus wie ein Zwilling des Baumes im Hansa-Foyer.
Es kann übrigens noch schlimmeres passieren, als unfreiwillig auf der Bühne assistieren zu müssen. Ich bin 9 Jahre alt. Wir sitzen an unserem schmalen Tisch mit dem hübschen Gitter, das uns von der Reihe vor uns trennt. Und da passiert es. Mein Orangensaft kippt um. Gebannt starre ich auf den Saft, der langsam in den Kragen des Herren vor mir tropft. Clowns schlagen Purzelbäume, der Pudel vom Parkplatz springt mit seinen Brüdern und Schwestern durch die Reifen – und der Saft tropft weiter in den Kragen meines Vordermannes. Von der Show bekomme ich nichts mit – der Herr zum Glück auch nichts von dem Unglück hinter ihm. Selbst nach der Pause – und ich erwarte ein Donnerwetter – geschieht nichts.
Doch es kommt schlimmer.
Das Theater war einige Jahre geschlossen; als ich vor der Schließung ein letztes Mal die Karten an der Kasse am Steindamm holte, durfte ich mir meine Sitzplätze im Saal aussuchen. Die Proben liefen gerade, als mir der alte Herr zeigte, unter welchen Plätzen ich noch wählen könnte. In den Jahren dazwischen sind wir in die Oper ausgewichen: Hänsel und Gretel statt Clowns, Zauberflöte statt Akrobatik, Boheme statt Theaterteller.